Literatur: Kosmos jenseits der schicken Weltstadt

Nr. 43 –

Die Pariser Banlieue gilt als Brennpunkt sozialer Probleme. Die Schriftstellerin Anne Weber hat Streifzüge vor Ort unternommen.

Foto des Département Seine-Saint-Denis
Spiegel für die eigenen Vorurteile: Département Seine-Saint-Denis. Foto: Guillaume Herbaut, Laif

Nur wer Sacré-Cœur von seiner Wohnung aus zumindest ahnt, wohnt in Paris – jenseits davon liegt die Banlieue. Oder die mehreren Banlieues. «Bannmeilen» ist die treffende Übersetzung dafür. Abgetrennt durch eine achtspurige Autobahn, die Périphérique, sind sie ein eigener Kosmos jenseits der schicken Weltstadt. Die deutsch-französische Schriftstellerin Anne Weber hat sich ein paar Monate lang mit einem befreundeten Filmemacher dahin aufgemacht, da «sie jahrzehntelang in unmittelbarer Nähe einer fremden Welt gelebt hatte, ohne ihr das geringste Interesse entgegenzubringen».

Zerfallene Cités

Das Vorhaben hat zu Beginn einen Beigeschmack von Ethnovoyeurismus. Der verflüchtigt sich bald, weil Anne Weber, oder die Ich-Erzählerin, die eigenen Vorurteile und Reaktionen reflektiert, ebenso wie die ihres in der Banlieue geborenen und aufgewachsenen Guides Thierry, Franzose mit algerischer Migrationsgeschichte.

Ihre Streifzüge führen sie in den Nordosten, ins Département Seine-Saint-Denis: ein «Geflecht aus Schienen, Schnellstrassen und Autobahnen, zwischen denen Lagerhallen, gewaltige Supermärkte, riesige Wohnblöcke und eine Vielzahl Vorstadthäuschen klemmen».

Die riesigen Häuserriegel und Wohntürme, das sind die Cités, in den 1950er Jahren gegen die Wohnungsnot gebaut. Teilweise erneuert, zeigen sie fast durchgehend Spuren des Zerfalls. Hier wohnen vielfach arabische und afrikanische Einwohner:innen, einst als Arbeitskräfte nach Frankreich geholt, jüngst auch als Geflüchtete eingereist. Seit durch die Deindustrialisierung die Fabriken in der Banlieue stillgelegt worden sind, gibt es hier kaum noch Arbeitsplätze. So pendelt dieses Prekariat in die Dienstleistungsjobs in Paris.

Dieser soziologische Befund ist nicht ganz unbekannt, aber Webers Buch macht ihn anschaulich, handgreiflich, sinnlich. Man folgt urbanen Wanderwegen über Betonstrassen in Betonwüsten, zu kümmerlichen Grünflächen neben verrammelten Quartierläden und heruntergekommenen Cafés, von ärmlichen Schulen zu «Drogenhotspots», durch Müll und Zerfall. Das Einkaufen ist in die Supermärkte kanalisiert, die öffentliche Infrastruktur aufs Minimum reduziert. Immer wieder stossen die beiden auf behelfsmässige Unterkünfte von Obdachlosen.

Dazwischen stehen Siedlungen einfacher Einfamilienhäuser; auch Gebäude der öffentlichen Verwaltung oder Institutionen eines Kulturbetriebs; und dann natürlich, Ende 2023, die Baustellen für die Olympischen Spiele, mit denen eine punktuelle Aufwertung des Quartiers erreicht werden soll – nachhaltiger Ausgang fraglich.

Webers Alltagsbeobachtungen führen zudem in tiefer reichende Schichten: Da sind Episoden des Algerienkriegs und dessen Nachwirkungen auf Algerier:innen wie Französ:innen. Die beiden Stadtwander:innen spüren Einzelschicksalen nach, den Verwandten von Thierry oder halb vergessenen Personen aus der algerischen Geschichte.

Dabei verschwimmen ethnische Zuschreibungen. Die Erzählerin ist eine mittelständische Weisse, darauf einigen sich beide. Aber Thierry? Wie beeinflusst seine Migrationsgeschichte die Fremdwahrnehmung und die Selbstdarstellung? In Frankreich geboren, verachtet er seinen Vater, der sich schrankenlos zum Franzosen erklärt hat; umgekehrt stellt er, der Hellhäutige – nur halbwegs scherzhaft –, eine Hierarchie der Einwander:innen aus dem Maghreb auf: Algerier zuoberst, Libyer zuunterst und noch weiter unten die Schwarzafrikaner:innen.

Da trifft es sich gut, dass sich in der Steinwüste doch eine Zuflucht findet, als die beiden auf das unscheinbare Café le Montjoie stossen, in dem sie unvoreingenommen begrüsst werden und soziale Konflikte für einen Augenblick stillgestellt scheinen. Im Verlauf ihrer Streifzüge suchen sie das Café wiederholt auf und lernen die Stammgäste kennen, Französ:innen ebenso wie Araber, und übers Buch verstreut werden im Originalton deren Lebensgeschichten hörbar.

Fragwürdige Rollenprosa

Anne Webers Buch «Annette, ein Heldinnenepos» (2020), für das sie den Deutschen Buchpreis erhielt, ist grandios, fängt ein faszinierendes Leben einer mehrfachen Widerstandskämpferin ein. Auch der algerische Befreiungskampf spielt darin eine gewichtige Rolle. Das neue Buch erreicht diese Qualität nicht. Das hängt mit einem irritierenden Stilmittel zusammen: Die beiden Stadtwander:innen entwickeln das Spiel, sich gegenseitig in Rollenprosa zu kritisieren. Thierry mimt Freund:innen der Erzählerin, die sich über deren Interesse an der Banlieue mokieren, oder er verteidigt selbst abschreckende Auswirkungen einer islamischen Parallelgesellschaft; die Erzählerin lobt ihr Unternehmen herablassend oder spitzt Thierrys fundamentalistische Auslassungen weiter zu. So sollen Klischees kritisch ausgestellt werden; aber das Verfahren bleibt redundant, wenn nicht gezeigt wird, wie Klischees entstehen und wie sie sich verfestigen.

Viele Le-Pen-Wähler:innen sind aktuell als von Politik und Wirtschaft Vernachlässigte charakterisiert worden, so wie einst auch ein Teil der «Gelbwesten». In «Bannmeilen» werden die wirtschaftlichen, sozialen, architektonischen Umstände von Menschen sichtbar, die nicht einmal die Möglichkeit finden, sich gelbe Westen überzustreifen.

Coverbild von «Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen»
Anne Weber: «Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen». Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2024. 301 Seiten. 38 Franken.

Die Autorin liest am Freitag, 25. Oktober 2024, um 19.30 Uhr in Saanen im «La Vache Bleue», am Montag, 28. Oktober, um 18.30 Uhr in Fribourg im Kino Korso.