Sparen bei den Armen: Leistungsabbau und neue Schikanen

Nr. 43 –

Im Kanton Bern will der Regierungsrat die ohnehin schon tiefen Sozialhilfeleistungen weiter kürzen. Kritik kommt auch von unerwarteter Stelle.

Foto eines Flohmarkts
Günstig einkaufen kann man zum Beispiel auf dem Flohmarkt. Wer statt Bargeld Gutscheine oder Bezahlkarten erhält, hat diese Möglichkeit nicht. Foto: Marvin Zilm, 13PHOTO

Soziale Isolation, schlechtere Bildungschancen und chronische Krankheiten: Sind Sozialhilfeleistungen zu tief, bedroht das die Entwicklung und die Lebensperspektiven von Kindern. Was Fachleute schon lange kritisieren, bestätigt eine letzte Woche veröffentlichte Studie. Sie zeigt, dass die Schweizer Sozialhilfeansätze nur gut ein Drittel der Kosten decken, die Eltern für ein Kind entstehen. Ebenso wird klar, dass die Sozialhilfe die verfassungs- und völkerrechtlich festgeschriebenen Kinderrechte nicht einhält.

In Auftrag gegeben haben die Studie die Konferenz der Kantonalen Sozialdirektor:innen (SODK) und die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos). Die Kritik kommt also von jenen Organisationen, die für die nationale Koordination der föderalistisch organisierten Sozialhilfe verantwortlich sind. An den ungenügenden Sozialhilfeleistungen tragen sie eine Hauptschuld: In den letzten zwanzig Jahren haben sie in ihren Richtlinien die Höhe dieser Leistungen immer weiter gesenkt. Darunter leiden neben Kindern auch Zehntausende Erwachsene. SODK und Skos handelten meist unter dem Druck der Kantone, die Ressentiments gegen Armutsbetroffene als Gelegenheit für Kürzungsrunden nutzen. Die Studie muss deshalb als Hilferuf der SODK und der Skos verstanden werden – und als Aufforderung an die Kantone, etwas an ihrer Politik zu ändern. Doch diese verfolgen andere Ziele.

Schneggs Totalrevision

Aktuellstes Beispiel ist der Kanton Bern, der bereits heute die schweizweit tiefsten Sozialhilfeleistungen zahlt – und nicht einmal die Mindestempfehlung von SODK und Skos einhält. Angeführt vom weit rechts politisierenden SVP-Regierungsrat Pierre Alain Schnegg, plant der Kanton eine Totalrevision seines Sozialhilfegesetzes. «Im Zentrum unserer Bemühungen stehen die Menschen», sagte Schnegg zwar beim Start der Vernehmlassung im Juli. Doch statt Massnahmen gegen Kinderarmut oder andere negative Auswirkungen der zu tiefen Sozialhilfeansätze sieht die Vorlage praktisch nur Verschlechterungen und neue Schikanen für die Betroffenen vor.

So soll die rechtliche Grundlage geschaffen werden, um geflüchteten Menschen die Sozialhilfe dauerhaft in Form von Sachabgaben, Gutscheinen oder Bezahlkarten auszurichten. Das wäre ein schwerwiegender Eingriff in die Selbstbestimmung der Betroffenen. Zudem können ohne Bargeld kostengünstige Einkaufsmöglichkeiten wie Flohmärkte nicht genutzt werden, obwohl diese für Menschen mit geringen finanziellen Ressourcen von grosser Bedeutung sind.

Die Vorlage sieht zudem vor, dass Personen, die ein halbes Jahr nach Beginn des Sozialhilfebezugs in keiner der beiden Berner Amtssprachen über die «erforderlichen Kenntnisse» verfügen, die Sozialhilfe um bis zu dreissig Prozent gekürzt wird.

Weitere Verschärfungen würden alle Menschen in der Sozialhilfe betreffen. So soll ein Selbstbehalt für Gemeinden eingeführt werden und diese noch stärker zum Sparen animieren. Leidtragende wären auch hier die Sozialhilfebeziehenden – und der Kanton selbst. Denn die eingangs erwähnte Studie zeigt auch, dass zu tiefe Sozialhilfeleistungen hohe gesellschaftliche Folgekosten verursachen. Beim Kanton steht aber anderes im Vordergrund: Die rechtlichen Hürden für den problematischen Einsatz von Sozialhilfedetektiven sollen gesenkt und die Gemeinden verpflichtet werden, unkooperativen Klient:innen die Sozialhilfeleistungen ganz zu streichen.

Erfolgreiche Zivilgesellschaft

Immerhin formiert sich Widerstand gegen diese einschneidenden Pläne. Fachorganisationen und linke Parteien kritisierten die Vorlage in der nun zu Ende gegangenen Vernehmlassung mit klaren Worten. Die Möglichkeit, Leistungen komplett zu streichen, sei eine «verfassungswidrige Hilfeverweigerung», schreibt etwa die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht. Die Kürzung bei unzureichenden Sprachkenntnissen und die Ausrichtung der Leistungen in Gutscheinform seien zudem «in höchstem Masse diskriminierend». Und das Solidaritätsnetz Bern kritisiert, dass das geplante Gesetz «prekäre Lebenslagen verschlechtere, statt diese zu verbessern». Auch vier grosse Berner Städte kritisieren die Vorlage.

Schon zweimal ist es der Zivilgesellschaft gelungen, von Schnegg und dem Gesamtregierungsrat angestossene Verschlechterungen in der Sozialhilfe zu stoppen. 2019 wurde eine Kürzung der Sozialhilfe an der Urne verhindert – im bürgerlichen Kanton Bern ein bemerkenswerter Erfolg. Daraufhin kürzte der Regierungsrat per Verordnung allen vorläufig aufgenommenen Geflüchteten den Grundbedarf um dreissig Prozent. 2022 konnten diese Kürzungen auf juristischem Weg zumindest teilweise rückgängig gemacht werden.

Jetzt braucht es die Zivilgesellschaft erneut. Doch selbst wenn sie wieder erfolgreich ist, reicht das nicht aus. Denn ohne eine deutliche, schweizweite Erhöhung der Sozialhilfeleistungen sind die Kinderrechte und eine verfassungskonforme Armutsabsicherung weiterhin nicht gewährleistet. Die Folgen für die Betroffenen bleiben einschneidend.