Gerlafingen in der Krise: Die Stahlarbeiter wehren sich
Entlassungen, eine zögerliche Politik, und jetzt wieder Kündigungen: Die Arbeiter:innen in Gerlafingen kämpfen um ihre Existenz – und gegen Bundesrat Parmelin.

Es ist ein nebliger Morgen Ende Oktober. Heinz Niederhauser sitzt mit nachdenklichem Gesicht in einem Büro des Stahlwerks Gerlafingen. Seit 22 Jahren arbeitet er hier, er ist mit der Fabrik aufgewachsen, denn schon sein Vater verdiente hier sein Geld. Mit dem Stahlwerk sei es immer wieder auf und ab gegangen, sagt der Leiter der Produktionsplanung. «Aber so eine Situation habe ich hier noch nie erlebt.»
Im Frühling strich die Unternehmensführung 95 von insgesamt 540 Stellen. Eine Produktionsstrasse wurde geschlossen. «Es war ein sehr trauriger Moment. Wir waren alle in der Produktionshalle und haben dabei zugeschaut», erinnert sich Niederhauser. Am 10. Oktober kam die nächste Hiobsbotschaft – weitere 120 Stellen sollen gestrichen werden. Dass der Markt sich nicht wie gewünscht entwickle, habe die Belegschaft mit Sorge zur Kenntnis genommen. «Aber ein solches Ausmass habe ich nicht erwartet. Die Zahl 120 hat mich schockiert», sagt Niederhauser. Mitte Oktober demonstrierten rund 500 Angestellte und Gewerkschafter:innen vor dem Bundeshaus in Bern für eine Unterstützung des Stahlwerks. Am Samstag will man in Gerlafingen erneut protestieren. Die Konsultationsverfahren laufen noch bis Mitte November.
Schon seit Monaten wird um das Werk auch auf politischer Ebene gerungen. Dies liegt zum einen daran, dass Gerlafingen nicht einfach irgendein Betrieb ist. Die Fabrik ist historisch eng verwoben mit der 6000 Einwohner:innen zählenden Gemeinde. Es ist das älteste Stahlwerk der Schweiz. Seit 1823 wird dort Stahl produziert. Neben Swiss Steel in Emmenbrücke ist es das letzte Werk des Landes und das einzige, das Recyclingstahl herstellt. «Ich bin ein Gerlafinger» ist ein Slogan, der in den Hallen immer wieder zu hören ist – überhaupt ist im Betrieb eine grosse Solidarität unter den Kolleg:innen zu spüren. Es werde sehr viel über die Krise gesprochen, sagt Mischa Mathys, Leiter der Mattenabteilung. Er hat den Eindruck, dass manche Kolleg:innen noch mehr arbeiten würden als ohnehin schon. «Weil sie zeigen wollen, dass sie eine Daseinsberechtigung haben.» Und: «Hier arbeiten auch Leute ohne Schweizer Lehrabschluss; sie haben Angst, dass sie hier keinen neuen Job finden. Die Älteren wiederum haben Sorge, wieder neu anfangen zu müssen.»
Angst vor der Schliessung
Schon früh forderte die Beltrame Group, ein italienisches, familiengeführtes Unternehmen, dem das Werk seit 2010 gehört, politische Hilfe. Deren Vertreter:innen meiden dabei das Wort «Subventionen». Bis 2022 sei Gerlafingen rentabel gewesen; nach dem Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine seien aber die Energiekosten massiv gestiegen. Eine Gigawattstunde Strom, so viel wie 75 000 Haushalte zusammen, verbraucht das Werk jeden Tag. Im Vergleich zu Stahlwerken in den Nachbarländern zahle der Betrieb vierzig Prozent höhere Stromkosten, behauptet Beltrame. Einige EU-Länder unterstützen die Stahlindustrie. Bundesrat Guy Parmelin lehnt jedoch Staatshilfe konsequent ab. Aus diesem Grund drohte Antonio Beltrame, Präsident der Beltrame-Gruppe, in der «NZZ am Sonntag», das Stahlwerk könnte geschlossen werden. Die Zukunft des Werks hänge von politischen Entscheidungen ab.
Die zwei Stahlwerke seien «systemrelevant», heisst es im Lager der Unterstützer:innen. In ungewohnter Einigkeit fordern Gewerkschaften, Bürgerliche und Linke staatliche Hilfe. Wenn Swiss Steel in Emmenbrücke und Gerlafingen geschlossen würden, müssten jährlich 1,5 Millionen Tonnen Stahlschrott im Ausland rezykliert werden, sagen sie. Die Ausfuhr des Schrotts und die Einfuhr von ausländischem Stahl würden den CO₂-Ausstoss stark erhöhen. Schon jetzt, so kritisierte Greenpeace diese Woche, zähle die Schweiz wegen ihres hohen CO₂-Ausstosses zu den Top 20 der klimaschädlichsten Länder.
Die Gegner:innen staatlicher Hilfe sagen hingegen, die Schweiz solle nicht beim «Subventionswettlauf der Grossen» mitrennen. Bundesrat Parmelin argumentiert, im Unterschied zu den Grossbanken erbrächten die Stahlwerke keine für die Volkswirtschaft unverzichtbaren Leistungen, die nicht innerhalb einer tragbaren Frist ersetzbar seien. Dabei hat Parmelins Departement laut der «NZZ am Sonntag» im Jahr 2020 die Systemrelevanz von Stahl Gerlafingen bestätigt. Doch diese Aussage stamme aus den Anfängen der Coronapandemie, heisst es heute aus seinem Departement. Damals sei vielen Betrieben, die grenzüberschreitend tätig gewesen seien und pandemiebedingte logistische Einschränkungen zu befürchten gehabt hätten, relativ grosszügig «Systemrelevanz» attestiert worden.
Parmelin bleibt hart
Der politische Widerstand gegen Parmelin ist gross – auch aus seiner eigenen Partei. Ende September hat der Nationalrat eine Motion von Christian Imark (SVP/SO) zur sofortigen Rettung des Werks Gerlafingen, falls nötig mit Notrecht, angenommen. Im Dezember wird der Ständerat darüber entscheiden. Im Stahlwerk selbst äussern sich die Mitarbeiter:innen vorsichtig. Sie wissen, dass sie auf die Politiker:innen angewiesen sind, und formulieren ihre Forderungen deswegen mit Bedacht. Niederhauser und Mathys weisen auf die Klimaziele hin – auch die Klimaallianz habe sich für den Erhalt Gerlafingens ausgesprochen.
Stahlarbeiter Heinz Niederhauser fordert: «Was die Energiekosten angeht, brauchen wir gleich lange Spiesse wie die Konkurrenz im Ausland. Das wäre ein Teil der Lösung und eine grosse Hilfe.» Dazu heisst es aus dem Wirtschaftsdepartement, die Strompreise hätten sich weitgehend normalisiert. Ab 2025 werde es ausserdem Entlastungen bei den Netzgebühren geben, da die gesunkenen Strompreise auch zu geringeren Kosten für die Stromreserve und die Netznutzung führten. Zudem hätten Stahl Gerlafingen und Beltrame die Möglichkeit, für Finanzhilfen einzelne Projektanträge einzureichen.
Doch reicht das, damit Stahl Gerlafingen eine Zukunft hat? Für Mischa Mathys hat Guy Parmelin die Bedeutung des Stahlwerks immer noch nicht erfasst: «Wie will die Schweiz ihre Zukunft gestalten? Will man sich noch mehr abhängig machen vom Ausland? Die Auswirkungen einer Werkschliessung werden vielleicht nicht sofort spürbar sein. Aber was ist in einigen Jahren oder in Krisensituationen?», fragt er.