Stahlwerk Gerlafingen: Ein Niedergang mit Ansage
Eines der letzten Schweizer Stahlwerke wankt. Schon vor Monaten hat Stahl Gerlafingen politische Hilfe gefordert – ohne Erfolg. Ein Fünftel der Belegschaft muss gehen.
Wer Roberto Zanetti zuhört, bekommt schnell den Eindruck, die Schweiz sei schon jahrzehntelang auf dem Holzweg. «Alle Länder machen Industriepolitik, doch die Schweiz macht keine. Damit ist sie zum Scheitern verurteilt», sagt der 69-jährige frühere SP-Ständerat im Restaurant Eisenhammer in Gerlafingen, Solothurn. Zanetti war von 1990 bis 2000 Gemeindepräsident von Gerlafingen, danach Nationalrat, Regierungsrat und von 2010 bis 2023 Ständerat. Trotz seines Ausscheidens aus der Politik will er nicht davon lassen, sich für das wenige Minuten vom Restaurant entfernte Stahlwerk einzusetzen. Er habe «eine emotionale Beziehung» dazu. Sein Vater habe hier während Jahrzehnten als Schlosser gearbeitet. Er nennt aber auch Argumente: «Wenn der Schrott nicht hier verarbeitet wird, dann muss der exportiert werden. Den kann man nicht kompostieren. Schrottexport und Baustahlimport, das ist ökonomischer und ökologischer Schwachsinn. Das Stahlwerk ist systemrelevant.»
«Systemrelevant» – das Wort fällt regelmässig im Zusammenhang mit dem Werk, wenn sich dessen Verteidiger:innen in der Politik zu Wort melden. Seit 1823 wird im Kanton Solothurn Stahl produziert. Die Gerlafinger Fabrik ist das älteste Stahlwerk der Schweiz und die einzige hiesige Produzentin von Recyclingstahl – und neben Swiss Steel in Emmenbrücke das letzte Werk des Landes. Während der Hochphase in den sechziger Jahren arbeiteten rund 3000 Personen auf dem 530 000 Quadratmeter grossen Gelände. Seither ist die Belegschaft stark geschrumpft. Inzwischen produzieren beim einst grössten Arbeitgeber im Kanton nur noch rund 540 Mitarbeiter:innen Tag und Nacht über 700 000 Tonnen Bau- und Industriestahl aus rezykliertem Schrott pro Jahr. Der grösste Teil davon, 75 Prozent, wird in der Schweiz verwendet, der Rest in die Nachbarländer geliefert. Seit 2010 gehört das Werk vollständig der italienischen, familiengeführten Beltrame Group. Es ist immer noch der grösste Arbeitgeber für das rund 580 Einwohner:innen zählende Dorf. Der industrielle Niedergang erfasste allerdings den ganzen Kanton. Die Zellulosefabrik Attisholz, die Papierfabrik Biberist und die Papierfabrik Utzenstorf mussten schliessen. Nur das Gerlafinger Stahlwerk hat überlebt.
«Tiefrote Bilanz»
Schon mehrfach geriet das Stahlwerk in eine Krise, unter anderem wegen der steigenden Energiepreise. Mehrfach wurde Kurzarbeit angeordnet. Doch so akut wie derzeit sei es noch nie gewesen, heisst es im Unternehmen und aus politischen Kreisen. Die Stahlproduktion ist enorm energieintensiv. Das Werk verbraucht täglich fast eine Gigawattstunde Strom, so viel wie 75 000 Haushalte zusammen. Im Vergleich zu Stahlwerken in Deutschland oder Italien zahlt der Betrieb vierzig Prozent mehr an Stromkosten, auch weil es in vielen Ländern der Europäischen Union konkrete Unterstützung für die einheimische Produktion gibt.
«Was uns momentan zudem belastet, sind die Netzkosten, diese sind innerhalb eines Jahres um 73 Prozent gestiegen», sagt der Finanzchef der Beltrame Group, Patrick Puddu. Die Verteuerung kann nicht an die Kunden weitergegeben werden; ausländische Anbieter:innen verkaufen ihre Produkte zu günstigeren Preisen. Hinzu kommen politische Streitigkeiten zwischen der EU und den USA. «Die EU verunmöglicht unsere Exporte», kritisiert Puddu. Brüssel verstosse gegen das 1972 mit der Schweiz geschlossene Freihandelsabkommen. Seit vergangenem Sommer sei wegen der Schutzzölle die Einfuhr von Schweizer Stahl faktisch nicht mehr lohnenswert. Im letzten Jahr sei jeder Arbeitsplatz mit rund 100 000 Franken subventioniert worden. «Die Reserven sind mittlerweile aber aufgebraucht», sagt Puddu. Mitte März wies das Stahlwerk auf die «tiefrote Bilanz» hin. Zwar wurde eine baldige Schliessung dementiert, am Mittwoch letzter Woche wurde aber bekannt, dass eine der beiden Produktionsstrassen geschlossen wird und 95 Stellen abgebaut werden sollen.
Ein parteiübergreifendes Politikum
Weil sich diese Entwicklung schon seit langem abzeichnete, hatte Roberto Zanetti im März letzten Jahres gleichzeitig mit Nationalrätin Diana Gutjahr (SVP) eine Motion «zur Sicherung des metallischen Materialkreislaufs in der Schweiz» eingereicht. Von «strategischer Bedeutung» und «Versorgungssicherheit» ist darin die Rede. Gutjahr sei auf ihn zugekommen, erzählt Zanetti im «Eisenhammer». Mit ihrem Mann betreibt Gutjahr einen Metallbaubetrieb in Romanshorn. Zudem ist sie Präsidentin des Branchenverbands Metal Suisse. Auf ihrer Website zeigt sie sich gemeinsam mit Peter Spuhler, als wäre er ihr Lebensgefährte. Darauf angesprochen, sagte Gutjahr in einem Interview, Spuhler sei ihr politischer Förderer gewesen. Er sei auch ein Freund. Der frühere SVP-Nationalrat ist Präsident und Hauptaktionär des Schienenfahrzeugherstellers Stadler Rail und Mitaktionär von Swiss Steel in Emmenbrücke. Spuhler, so wurde jetzt bekannt, will bei Swiss Steel aussteigen. Der Stahlkonzern hat in den letzten Jahren riesige Verluste gemacht; bei einer erneuten Kapitalerhöhung will Spuhler nicht mehr mitmachen.
Im Parlament und im Ständerat sprach Zanetti von der Stahlindustrie als «Rückgrat unserer Volkswirtschaft» und von «ökonomischer und ökologischer Landesverteidigung». Sein Einsatz zeigte Wirkung: Mit 35 gegen 5 Stimmen hiess der Ständerat den Vorstoss gut. «Der Ständerat hat ein Dogma ausser Kraft gesetzt und Ja zu Industriepolitik gesagt. Für mich ist das einer der grösseren politischen Erfolge», sagt Zanetti. Als im Juni 2023 das 200-jährige Bestehen des Werks gefeiert wurde, mischte sich auch Energieminister Albert Rösti unter die Geburtstagsgäste. Dabei hält Wirtschaftsminister Guy Parmelin, sein Parteikollege, Stahlwerke überhaupt nicht für «systemrelevant», wie er immer wieder betont. Dennoch stimmten in der Herbstsession im Nationalrat 119 für die Motion und nur 56 dagegen. Parmelin wurde damit beauftragt, mit der Metall- und Aluindustrie ein Massnahmenpaket auszuarbeiten, um den Standort Schweiz zu erhalten.
Weil seitdem aber nichts geschehen ist, forderten Mitte März alle acht Solothurner Bundesparlamentarier:innen vom Staat «Notmassnahmen», um das «systemrelevante» Werk zu retten. Der Vorstoss erfolgte sowohl im National- wie auch im Ständerat: Der Bundesrat müsse allenfalls mit Notrecht reagieren.
Parmelin blieb stur: «Es wäre natürlich ein schwieriger Moment, wenn diese Branche fallen sollte. Systemrelevant ist sie nicht», sagte er. Auf Nachfrage der WOZ konkretisiert das Departement für Wirtschaft: «Ein Unternehmen gilt dann als systemrelevant, wenn es für die Volkswirtschaft zentrale und unverzichtbare Leistungen erbringt und wenn diese systemrelevanten Leistungen nicht innerhalb tragbarer Frist ersetzt werden können.» Auch die Anwendung des Notrechts wird abgelehnt: «Gegenwärtig ist in der für die Branche anerkannt ernsthaften Lage aber keine Bedrohung der Landesinteressen zu erkennen, welche den Einsatz von Notrecht rechtfertigen würde», heisst es weiter.
Politisches Nichtstun
Ob das Stahlwerk Gerlafingen systemrelevant sei, dazu will sich Finanzchef Puddu nicht äussern: «Das muss die Politik beurteilen.» Er fügt an: «Der Standort lebt von den kurzen Wegen zu unseren Kunden und der kurzen Zeit, in der wir liefern können. Innerhalb von drei Tagen können wir unsere Produkte liefern. Das schaffen nur wir. Es gibt Baustellen, die hätten ohne unseren Stahl nicht weiterarbeiten können. Wir liefern mit der Bahn und wissen auch, dass das mit der Bahn in den benachbarten Ländern nicht immer gut funktioniert.»
Doch Tatsache ist auch: Weltweit besteht in der Stahlproduktion eine Überkapazität. Es herrscht also keine Mangellage. Ohne das Stahlwerk Gerlafingen müsste dann der Schrott exportiert und der Stahl importiert werden. Was das bedeuten würde, hat Zanetti überschlagsmässig berechnet: Er kommt auf 60 000 Fahrten à 300 Kilometer. «Das ergäbe 18 Millionen Kilometer, was 450 Fahrten rund um die Erde wären. Das wäre ökonomischer Schwachsinn, und ökologisch nicht nur schwachsinnig, sondern ein Verbrechen, ganz abgesehen davon, dass die Versorgungssicherheit unseres Landes mit Baustahl keineswegs gesichert wäre», sagt Zanetti.
Wie geht es weiter? Aus dem Wirtschaftsdepartement heisst es, dem Bundesrat würden in den nächsten Wochen Vorschläge zur Umsetzung der Motion Zanetti vorgelegt. «Industriepolitik zu machen, ist nicht bloss eine Begehungstat, sondern kann auch eine Unterlassungstat sein. Wenn die gesamte relevante Konkurrenz von Industriepolitik profitiert, ist keine Industriepolitik zu machen auch Industriepolitik – nämlich durch Unterlassung», warnt der Politiker.