Industriepolitik: Die Sage vom Sonderfall

Nr. 47 –

Politiker:innen von links bis rechts bemühen sich gemeinsam mit der Klimabewegung um die Rettung der Schweizer Stahlindustrie. Was ist da los?

Demonstration von Mitarbeitern von Stahl Gerlafingen in Bern Ende Oktober
Wenn der Bund nicht zu einer Industriepolitik findet, kommt die Industrie eben zum Bundeshaus: Demonstration von Mitarbeitern von Stahl Gerlafingen in Bern Ende Oktober. Foto: Peter Schneider, Keystone

Auf den ersten Blick ist der Erfolg verwunderlich – er verdankt sich einer ungewohnten Allianz. Da sind die Rechten, unter ihnen Damian Müller von der FDP und Christian Imark von der SVP, die sich plötzlich für Subventionen an die Privatwirtschaft einsetzen. Seite an Seite mit Sozialdemokrat:innen, die sich ebenso leidenschaftlich für die Interessen internationaler Industriekonzerne engagieren. In deren Seitenwagen: die Klimabewegung, die für den Erhalt eines Wirtschaftszweigs kämpft, der zu den emissionsreichsten des Landes zählt.

Jetzt sieht es danach aus, als könnte sich diese Allianz durchsetzen. Am Dienstag sprach sich eine knappe Mehrheit der nationalrätlichen Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie (Urek) für Massnahmen zur Rettung der Stahlindustrie aus. Sie will Betrieben der Stahl- und Aluminiumindustrie ab einer gewissen Grösse Rabatte auf die Gebühren für die Nutzung des Stromnetzes gewähren, also deren Energiekosten um Millionen Franken reduzieren. Die Massnahme wäre befristet auf vier Jahre.

Auf der Gegenseite: Bundesrat Guy Parmelin, der seine Industriepolitik im Geist des französischen Surrealismus gern mit der Aussage beschreibt, es handle sich dabei nicht um Industriepolitik. Was er damit meint: dass er keinen Handlungsbedarf sieht. Stahl Gerlafingen sei nicht «systemrelevant», sagte Parmelin bereits mehrmals. Der Begriff war aber schon immer ärgerlich ungenau. Was heisst schon «System»?

Schutzzölle überall

Parmelins Unwillen, sich einzumischen, steht in einer historischen Kontinuität. Die Schweizer Industriepolitik wird bis heute vom Dogma dominiert, dass die Produktion dem Markt überlassen werden soll. Wenig Handelshemmnisse, viel Freihandel – das sich seit Jahren in Zeitlupe vollziehende Ende des Neoliberalismus kommt hier etwas langsamer an.

Stattdessen wird auf Prinzipien beharrt, die die grossen Industriestaaten längst aufgegeben haben. Weltweit besteht, teils wegen staatlicher Subventionierung, beim Stahl eine Überproduktion, was die Preise drückt. Und 2018 erliessen die USA Schutzzölle auf Stahl- und Aluminiumimporte, worauf es ihnen die EU und später auch Grossbritannien gleichtaten. Darunter leidet das Exportgeschäft. Das sind zwei von vielen Gründen für das Serbeln der hiesigen Stahlindustrie.

Schon im Frühjahr strich das Stahlwerk Gerlafingen 95 Stellen. Vor einem Monat legte die italienische Eigentümerin Beltrame Group nach und kündigte an, weitere 130 Arbeitsplätze in Gerlafingen einsparen zu wollen (siehe WOZ Nr. 14/24). Letzte Woche machte dann auch Swiss Steel publik, im Stahlwerk in Emmenbrücke 130 Stellen zu streichen.

«Die Stimmung im Betrieb ist angespannt», sagt Fehmi Rudaj. «Die Leute reden weniger miteinander als sonst, alle sind mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.» Seit zwölf Jahren arbeitet er in Gerlafingen, mittlerweile als Gruppenleiter. Gemeinsam mit seinem Team ist er für die Annahme von Schrott für die Produktion von Recyclingstahl verantwortlich: Sie nehmen das Material entgegen, überprüfen seine Qualität und geben es dann weiter zur Einschmelze. Nun schöpft er wieder Hoffnung: «Jetzt, da die Politik uns unter die Arme greifen will.»

Migrations- statt Industriepolitik

Die laufende Debatte über die Rettung der Stahlindustrie ist bedeutend. Klar, die Kurzarbeit ist schon lange ein Mittel, um private Unternehmen staatlich zu entlasten. Und auch die Credit Suisse wurde schon gerettet. Aber geht es um die Stahlindustrie, stehen da plötzlich neue Fragen im Raum: Was sollen wir tatsächlich produzieren? Welche Bedürfnisse muss die Industrie befriedigen – auch wenn es nicht rentiert?

Kein Wunder, sind die Ordoliberalen aufgescheucht – von der NZZ bis zu Avenir Suisse. Sie bemühen dieselbe Erzählung wie auch die Minderheit in der Urek: die Schweizer Erfolgsgeschichte. Dass es nämlich für die Schweiz «langfristig immer von Vorteil» gewesen sei, «keine Politik zugunsten einzelner Branchen und Unternehmen zu betreiben», so die Urek-Minderheit.

Diese Erfolgsgeschichte wird üblicherweise verkürzt erzählt, wie der Historiker Leo Grob erklärt. Er forscht zum Prozess der Deindustrialisierung in der Schweiz. Man habe hier tatsächlich immer auf fördernde Investitionen zugunsten der Industrie verzichtet, sagt Grob, auch in den siebziger Jahren, als eine Rezession die europäischen Volkswirtschaften erfasste. Anders als in anderen Staaten habe man das nicht nötig gehabt: Die Arbeitslosigkeit blieb trotz Fabrikschliessungen konstant tief.

Aber nicht, weil diese nicht zu Krisen geführt hätten. «Die Schweiz hat das Problem über ihre Migrationspolitik gelöst», sagt Leo Grob. «Und die Arbeitslosigkeit exportiert, indem viele entlassene Arbeiter:innen das Land verlassen mussten.» Eine aktivere Industriepolitik zu verfolgen, sei deshalb nie dringlich genug gewesen.

Die Sage vom Sonderfall Schweiz und ihrem Liberalismus, der krisenfrei der Deindustrialisierung trotzt, hallt trotzdem nach. Bis jetzt wenigstens, denn der Fall Gerlafingen zeigt exemplarisch auf, dass sich die Anforderungen an die Industriepolitik seit den Siebzigern mindestens in einem Punkt entscheidend verändert haben.

Umwege vermeiden

Wie Gerlafingen dient auch das Swiss-Steel-Werk in Emmenbrücke der Wiederverwertung, es produziert aber auch Spezialteile. Falls die Werke schliessen müssten, würde der Schweizer Schrott ins Ausland exportiert, dort wiederaufbereitet und dann wieder importiert. Diese Transportschlaufe ins günstigere Ausland würde sich finanziell sogar lohnen, aber wäre aus klimapolitischer Sicht verheerend.

«Wir sind auf Stahl als Baustoff angewiesen», sagt Anna Lindermeier vom Klimastreik Schweiz. «Etwa für den Aufbau von Produktionsanlagen für Wind- und Solaranlagen.» Anders sei die Energiewende unmöglich. Recycling sei der nachhaltigste Weg, ihn zu produzieren. «Stahl aus dem Ausland zu importieren, kann dagegen nie die Lösung sein», so Lindermeier. Auch nicht, wenn das trotz zusätzlicher Transportwege billiger ist als die lokale Produktion. Deshalb, so die Aktivistin, müsse die Produktion der Marktlogik entzogen werden: Der Klimastreik fordert die Vergesellschaftung der Stahlwerke.

So weit wollen die Urek und ihr Präsident Christian Imark nicht gehen. Imarks Engagement dürfte ohnehin vor allem seinem Interesse an einer Wiederwahl im Heimatkanton Solothurn, wo Gerlafingen liegt, geschuldet sein. Und ihm dereinst als Argument in seinem Kampf für neue AKWs dienen.

Immerhin wollen die Politiker:innen aber Bedingungen an die kriselnden Unternehmen stellen: eine Garantie über den Erhalt des Produktionsstandorts, eine Verpflichtung zu nachhaltigen Investitionen und Verzicht auf die Auszahlung von Dividenden. Stahl Gerlafingen hat dem Vernehmen nach bereits angekündigt, auf die zweite Kündigungswelle zu verzichten, sollte das Paket durchkommen.

In Imarks Augen handle es sich dabei um eine Umwelt- und nicht um eine industriepolitische Massnahme, um eine Überbrückungshilfe, sagt er: In den nächsten Jahren werden neue Vorgaben für das öffentliche Beschaffungswesen in Kraft treten, die dem nachhaltigeren Stahl einen Wettbewerbsvorteil verschaffen werden. «Es geht darum, Übergangslösungen umzusetzen, bis die langfristigen Massnahmen zu greifen beginnen», sagt Imark. «Sie können das nennen, wie Sie wollen.»

Am ehesten eben doch aktive Industriepolitik. Und sollte die Rettung gelingen, wäre das wegweisend. Die Bedingungen müssten sich ändern, verlangt auch Fehmi Rudaj. «Wir brauchen mehr Industriepolitik.» Am Mittwoch wurde er gemeinsam mit dem Rest der Belegschaft in Gerlafingen über die neusten politischen Entwicklungen informiert. «Vielleicht machen wir Kurzarbeit, aber es gibt keinen Stellenabbau», schreibt er in einer SMS. «Wir sind froh, dass niemand gehen muss!»