Krieg gegen die Ukraine : Eine Stadt macht dicht
Lange galt Pokrowsk im Oblast Donezk als Zufluchtsort für Vertriebene, als logistische und humanitäre Drehscheibe. Doch seit Wochen rückt die Front immer näher und erstickt das zivile Leben.
Manchmal denkt Evelina Schelest daran, dass auch die Menschen in Awdijiwka und Bachmut einst auf ein Ende des Krieges gehofft hatten. Man könne lange in diesem Glauben leben, wenn sich die Front in einer halbwegs sicheren Distanz befinde: zwanzig Kilometer, wie noch vor einigen Monaten. Doch inzwischen wurden daraus acht, und das Donnern der Artillerie begleitet jeden Tag in Pokrowsk. «Wenn man irgendwo lebt, wo es friedlich ist, merkt man nicht, dass das Leben jeden Moment aufhören kann», sagt sie. Die Explosionen, die beinahe durchgehend zu hören sind, lösen bei ihr kein Zucken aus, kein Blinzeln, keinen besorgten Blick in Richtung Fenster. Sie habe sich daran gewöhnt und lange trotzdem ruhig schlafen können, sagt Schelest. Erst als vor zweieinhalb Wochen die Schule getroffen worden sei, drei Gehminuten von ihrer Wohnung entfernt, und durch die Druckwelle das Glas und die Bretter ihres Balkons zerborsten seien, habe sie begriffen, dass der Krieg nun da sei.
Die 57-Jährige mit den orangeroten Haaren, den manikürten Fingernägeln und dem schwarzen T-Shirt mit der Aufschrift «Hope» – Hoffnung – steht auf dem überdachten Balkon ihrer Wohnung und sagt, dass es schlimmer hätte kommen können: Solange das Geld reiche und die Menschen Arbeit hätten, gehe das Leben weiter. Ihren Job in der Öffentlichkeitsarbeit für das Bergwerk in Pokrowsk, das trotz der nahenden Kämpfe noch immer geöffnet ist, könne sie im Homeoffice erledigen. Doch die Isolation mache ihr zu schaffen. Die Ausgangssperre tritt um 15 Uhr in Kraft und dauert bis 11 Uhr morgens. Vier Stunden bleiben den Menschen für Erledigungen. «Den Rest der Zeit sitzen wir zu Hause», sagt Schelest.
Nur noch der Schlüsselbund
In den letzten zweieinhalb Jahren diente Pokrowsk mit seinem Eisenbahnknotenpunkt und der Autobahn, die in die viertgrösste Stadt des Landes, Dnipro, führt, als wichtiger humanitärer und logistischer Hub im Donbas. Noch vor wenigen Monaten lebten hier Schätzungen zufolge zwischen 50 000 und 60 000 Menschen. Doch seit dem rapiden Vorankommen der russischen Truppen haben mehr als 20 000 die Stadt verlassen, sind evakuiert worden oder in nahe gelegene Dörfer gezogen. «Die Gespräche mit Bekannten drehen sich nur noch um die Frage: Seid ihr auch noch da?», sagt Evelina Schelest.
Sollte Pokrowsk an die russischen Truppen fallen, könnte das eine Kettenreaktion auslösen, meinen Beobachter:innen. Der Weg wäre dann womöglich frei für Offensiven in Richtung Kramatorsk und Slawjansk, den letzten grösseren Städten im Donbas, die noch unter ukrainischer Kontrolle stehen. «Wir alle wissen: Wenn Pokrowsk fällt, sind diese Städte als Nächstes dran», sagt Schelest. An der Wand ihres Wohnzimmers hängt ein Bild, das steile Klippen und das Meer zeigt. Sie habe es von zu Hause mitgenommen, als sie im Jahr 2005 von der Krim hierhergezogen sei. Mit der Tochter, die mit dem Enkelsohn noch immer auf der Halbinsel in Simferopol wohnt, spreche sie regelmässig, aber nicht über Politik. Das Bild werde sie wohl dalassen müssen, überlegt sie laut.
Aus einer Schachtel hinter der Couch holt Schelest einen verzierten Teller: ein Erbstück von der Grossmutter, das sie gerne mitnehmen möchte und von dem sie will, dass es in der Familie bleibt. Zwei Koffer und zwei Taschen mit Kleidung liegen unter dem Bett und im Gang, daneben steht ein Tragebehälter für die beiden Katzen, für die sie nun endlich die Dokumente erneuert hat, die sie braucht, sollte sie ins Ausland gehen. Schelest spricht im Konjunktiv. Den Fernseher werde sie vielleicht dem Spital schenken. In ein paar Tagen, sagt sie, werde sie vielleicht die Tür ihrer Wohnung zusperren und sie wahrscheinlich nie wieder öffnen. Schon so vielen Menschen vor ihr ist von der Wohnung nur noch der Schlüsselbund geblieben.
Flaggenmeer auf den Gräbern
Die Soldaten, die man in Pokrowsk fragt, sagen, die Zivilist:innen sollten gehen, solange sie noch könnten. Dort, wo einst Werbeschilder hingen, steht jetzt nur noch ein Wort in roten Lettern auf dem Banner: «Evakuierung», darunter eine Telefonnummer. Die meisten Fenster der Geschäfte sind mit Sperrholzplatten verschlagen. Mit Lautsprechern fahren Polizist:innen durch die Strassen und fordern die Bewohner:innen zur Evakuierung auf. Doch nicht alle folgen der Anweisung.
Er habe nicht vor, seine Heimat zu verlassen, sagt Tolik, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will. Der 55-Jährige arbeitet seit zwanzig Jahren als Bestattungsunternehmer in Pokrowsk, in einem früheren Leben war er Polizist – den durchdringenden Blick aus dieser Zeit hat er behalten. Seine beiden Söhne leben in Stuttgart, der Rest der Familie auf der anderen Seite der Front, im von Russland kontrollierten Teil von Donezk. «Ich bin in Pokrowsk geboren, habe immer hier gelebt und gearbeitet und werde hier sterben.»
Tolik, Dreiviertelhosen, T-Shirt, sein Handy in der einen Hand, einen Schlüsselbund in der anderen, organisiert Beerdigungen, die schon in der Vergangenheit zum Ziel von Angriffen wurden, den Transport der Särge, auch für Soldat:innen. «Ich behandle alle gleich», sagt er und blickt auf das Meer aus ukrainischen Flaggen auf dem Friedhof. Sie markieren die Gefallenen. «Jeden Einzelnen habe ich begraben», sagt Tolik. Seit dem Jahr 2014, als die Kämpfe im Donbas begannen, seien es mehr als achtzig gewesen, vielleicht neunzig, sagt er.
Aus dem Wächterhäuschen des Friedhofs kommt eine zierliche Frau in einem Sommerkleid mit Leopardenprint, an ihren Ohren baumeln goldfarbene Kugeln: die 64-jährige Nadeschda, die Friedhofswärterin. Auch sie möchte nur ihren Vornamen in der Zeitung lesen. Die Explosionen im Hintergrund machten ihr Angst, aber sie bleibe trotzdem hier, sagt sie mit Tränen in den Augen, aber einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Jemand müsse sich um die Gräber kümmern, sie pflegen.
Immer mehr Angehörige, die Pokrowsk verlassen haben, rufen aus anderen Landesteilen an und fragen besorgt nach den Gräbern, bitten Nadeschda darum, sie auf dem Laufenden zu halten, aus Sorge, dass auch der Friedhof durch Explosionen verwüstet wird. Sie habe sich auch darum gekümmert, dass zwei Brüder, die beide als Soldaten gefallen seien, nebeneinander beigesetzt worden seien. «Sie sind nicht zusammen gestorben, aber liegen nun nebeneinander», sagt sie. Tolik spricht davon, dass in diesem Krieg «die da oben» das Sagen hätten und nicht die einfachen Menschen, dass die Ukraine Russland provoziert habe. Dann fällt ihm Nadeschda ins Wort. «Das ist deine Meinung. Was wäre, wenn wir nicht kämpfen würden? Was wäre dann?» Tolik winkt ab und lächelt.
An diesem Tag finden zwei Beerdigungen statt. Die Trauergesellschaft kommt in mehreren Autos angefahren, die Beisetzung dauert eine knappe Stunde, während im Hintergrund Rauch aufsteigt und sich die Gewissheit ausbreitet, dass die Kämpfe immer näher kommen. Tolik beobachtet die Beisetzung aus der Ferne, raucht eine Zigarette, blickt auf eine Bergehalde, auf deren Gipfel eine ukrainische Flagge weht. Dann zieht er eine Zweiliterflasche Cola aus seinem weissen Lieferwagen, der innen mit rostbraunem Samt verkleidet ist. Seit vierzehn Jahren fahre er die Särge damit zu den Gräbern. Nur zur Beerdigung seiner eigenen Schwester konnte er nicht. Sie ist vor zwei Jahren im russisch besetzten Gebiet des Oblasts Donezk gestorben. «Vor dem Jahr 2022 habe ich sie hin und wieder besucht», sagt er. Der Krieg habe tiefe Keile in viele Familien im Donbas getrieben.
Die Nacht ist am schlimmsten
Es fühlt sich an, als werde die Stadt stillgelegt, das zivile Leben ist an sein Limit gekommen. In manchen Innenhöfen versammeln sich die Bewohner:innen, um Trinkwasser aus den improvisierten Wassersammelpunkten abzufüllen. Manche Teile von Pokrowsk haben keinen Strom, kein fliessendes Wasser mehr. Land Cruiser, in denen Soldaten sitzen, brausen durch die Stadt. Wieder erschüttern laute Explosionen die Luft. Das Wichtigste seien die Routinen, sagt Evelina Schelest, die Treffen mit den Freundinnen. Doch von ihnen ist nur noch eine geblieben.
Sie heisst Julia Tscherkaschina und leitet ein kleines Restaurant, das sich nun auf die Heimzustellung von Essen spezialisiert hat und einer der wenigen Orte ist, wo sich noch immer Menschen treffen. Die 34-Jährige sitzt in Sandalen und Jeanshotpants mit manikürten Nägeln auf den neuen Parkbänken vor dem Lokal, während um sie herum Männer in Uniform an den Kaffeebechern nippen und Journalist:innen in Schutzwesten ihre Berichte mit der Kamera aufzeichnen. Sie wirkt aufgekratzt, überschwänglich optimistisch, man möchte glauben, dass alles wieder gut wird, wenn man mit ihr redet, dass es schon irgendwie weitergeht und dass es ein Morgen gibt. Die sechsjährige Tochter sei längst in Dnipro, sie selbst werde weiterarbeiten.
Die Nacht sei am schlimmsten, sagt Tscherkaschina. Am Morgen, wenn die Sonne scheine, sei alles in Ordnung. Wenn man Leute treffe, wenn man etwas zu tun habe, eine Aufgabe. Aber am Abend, wenn man das Haus nicht mehr verlassen dürfe und der Beschuss wieder stärker werde, das sei ein Albtraum. Zum Abschied geben sich die beiden Frauen ein Küsschen auf den Mund, umarmen sich, machen sich am helllichten Nachmittag auf den Nachhauseweg. Um 15 Uhr sind die wenigen Läden, die noch offen haben, dicht. «Früher dachten wir, dass wir alle noch so viel vor uns haben», sagt Evelina Schelest. «Doch der Krieg nimmt einem alle Hoffnung.»