Sachbuch: Die Politik des Verschwinden-Machens

Nr. 45 –

Eine politische Freiheit, sich zu bewegen, fordert Philosophin Marie-Claire Caloz-Tschopp in ihrem anspruchsvollen, aber erhellenden Essay.

Die Philosophin Marie-Claire Caloz-Tschopp hat in Lateinamerika studiert, über Hannah Arendt dissertiert, an den Universitäten von Genf und Lausanne gelehrt und sich als Menschenrechtsaktivistin beim Referendum zur «Übernahme der EU-Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache», genannt Frontex, engagiert. Vor diesem Hintergrund ist ihre Verknüpfung der extremen Gewalt gegenüber den im Mittelmeer und im Ärmelkanal Verschwundenen mit den in Argentinien während der Militärdiktatur über dem Meer abgeworfenen Junta-Gegner:innen, den «desaparecidos», nicht überraschend. In beiden Fällen geht es um ein «faire disparaître»: um ein politisch motiviertes «Verschwinden-Machen».

Durch ihre Kontrollfunktion an der Grenze der Europäischen Union macht sich Frontex mitschuldig am gewaltsamen Verschwinden Tausender durch Ertrinken, Ausschaffung, Stacheldraht, Einsperrung in Lagern. Es gibt heute in Europa mehr Lager als während des Zweiten Weltkriegs. Caloz-Tschopp definiert diese Strategie gewaltsamer Abschottung, die von der Schweiz mitgetragen wird, als politischen Nihilismus, weil sie jegliche Vision einer aktiven Migrationspolitik negiert.

Erde als Gemeineigentum

Spuren der Ablehnung einer solch menschenverachtenden und tödlichen Politik findet Caloz-Tschopp in der politischen Philosophie, unter anderem bei Jacques Derrida und Jean Baudrillard, bei Immanuel Kant, Simone Weil und Rosa Luxemburg. Zentral ist ihr Hannah Arendts Grundsatz, dass jedem Menschen bedingungslos das Recht zukommt, Rechte zu haben, also auch allen Geflüchteten. Unterschiedliche Rechte für Ansässige und Migrierende definiert sie als «Apartheid»: als Machtsystem, das Menschen unterschiedlichen Kategorien zuordnet. Diese Kategorisierung, so Caloz-Tschopp, ist bedingt durch den auf globaler Ebene alles durchdringenden Kapitalismus, der Menschen und Natur nur als auszubeutende Ressourcen versteht. Diesem kapitalistischen Verständnis von Eigentum als Quelle privaten Profits stellt sie Kants Verständnis der Erde als Gemeineigentum gegenüber. Auf einer so verstandenen Erde dürfen sich die Menschen unabhängig ihrer Herkunft überall und jederzeit frei bewegen.

Die von Caloz-Tschopp geforderte «liberté politique de se mouvoir» umfasst Emigration wie Immigration. Doch in der Uno-Deklaration der Menschenrechte ist nur das Recht auf Auswanderung festgehalten. Wer auswandert, wandert aber zugleich anderswo ein. Diese notwendige Ergänzung im Sinne des Rechts auf Einwanderung ist jedoch nicht Teil des Grundrechtskatalogs. Je nach politischer Situation findet sie Anwendung oder nicht. So wurde während des Kalten Krieges das mit Gewehrläufen und Stacheldraht durchgesetzte Verbot einer Auswanderung aus der DDR als Verstoss gegen die Menschenrechte angeprangert; den erfolgreich Geflüchteten wurden im Westen unmittelbar Rechte zugesprochen. Nicht so heute, wo vor allem Migrierende und Flüchtende aus dem Süden als Gefahr für die hiesige Gesellschaft definiert werden. Auch in der Schweiz wird ihnen mit rechtlichen Beschränkungen, Kontroll- und Ausschaffungsmassnahmen begegnet.

Ein Recht auf Flucht

Hoffnung auf eine neue Gesellschaft sieht die Genfer Philosophin im Antinihilismus: im Sinne eines auf lokaler bis globaler Ebene praktizierten Widerstands verschiedenster Gruppierungen, ob im Denken, im zivilen Ungehorsam oder im aktiven Kampf. Mit Hannah Arendts Hauptwerk «Vita activa oder Vom tätigen Leben» versteht sie diese Praxis als selbstverantwortliche Mitwirkung und Verweigerung des politischen Nihilismus durch Sehen und Benennen. Die Exilierten praktizieren diesen Widerstand, indem sie ein Recht auf Flucht einfordern wie auch Rechte für die Flüchtenden. Nicht wenige von ihnen kämpfen mit dem Einsatz ihrer Körper, um nicht zu verschwinden.

Die Verknüpfung weltweiter Gewalt und weltweiter Widerstandskämpfe mit Ansätzen der Philosophie samt Texteinschüben verschiedener Autor:innen macht die Lektüre dieses Essays nicht einfach. Caloz-Tschopp vermittelt aber überraschende Sichtweisen – so auch die Hoffnung auf eine von Solidarität und Gerechtigkeit geprägte Zukunft. Diese sieht sie in einer neu fundierten Politik der Gastfreundschaft: als Politik einer globalen kollektiven Sicherheit, die alle Menschen, die Natur und auch das Klima miteinbezieht. Dabei unterscheidet sie zwischen «sécurité», dem Anspruch der Menschen auf Sicherheit, und der militärisch gedachten «sureté», dem Sicherheitsanspruch des Staates. Diese Unterscheidung spiegelt sich in der Differenzierung zwischen Menschenrechten, die jeder Person zustehen, und dem internationalen Völkerrecht, das sich – in Genese und Anwendung – auf kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Staaten bezieht.

Die Philosophin erweitert die politische Gastfreundschaft durch die Vision eines demokratischen Denkens und Handelns. Diese zeigt sich in der Widerständigkeit der Flüchtenden und ihrer Unterstützer:innen, die das Unmögliche als praktizierte Möglichkeit im Hier und Jetzt imaginieren. Demnach ist auch ein anderes Europa denkbar: eines, das sich der Praxis der Apartheid, des Verschwinden-Machens – ob im Lager oder im Meer – widersetzt.

Buchcover von «Frontex, le spectre des disparu.e.s. Nihilisme politique aux frontières»
Marie-Claire Caloz-Tschopp: «Frontex, le spectre des disparu.e.s. Nihilisme politique aux frontières». Éditions L’Harmattan. Paris 2023. 257 Seiten.

Elisabeth Joris ist Historikerin und bei den Klimaseniorinnen aktiv. Vor kurzem ist «Elisabeth Joris. Ein Leben in Geschichte(n)» von Denise Schmid erschienen.