Mohammad Rasoulof: In Geiselhaft
Mohammad Rasoulof sass im Gefängnis, als in Teheran die Frauen auf die Strasse gingen. In seinem neuen Film «The Seed of the Sacred Fig» verdichtet er den feministischen Aufstand von 2022 zum Kammerspiel.
Wehe dem, der seinen Glauben verliert! Der Vater im Film sagt das einmal zu seinen jugendlichen Töchtern, ganz beiläufig, aber es ist unverkennbar als Drohung gemeint. Doch der Satz fällt auch auf ihn selbst zurück, den frisch beförderten Untersuchungsrichter, der seinen eigenen Kindern nicht mehr traut. Denn auch wenn er das natürlich anders gemeint hat: Auf seine Töchter bezogen, ist er es selbst, der den Glauben verliert.
In gewisser Weise hat auch Mohammad Rasoulof, der Regisseur von «The Seed of the Sacred Fig», den Glauben verloren. So viele Jahre habe er gekämpft, um weiter im Iran arbeiten zu können, sagt er im Gespräch am Filmfestival in Locarno. Doch jetzt sei es für ihn schlicht unmöglich geworden, dort zu bleiben. Seit 2010 wurde er vom iranischen Regime immer wieder drangsaliert und eingeschüchtert, wiederholt wurde er mit Ausreisesperren belegt und auch zu Haftstrafen verurteilt. Den Goldenen Bären für seinen vorletzten Film, «There Is No Evil» (2020), konnte er deshalb nicht persönlich entgegennehmen.
Der Unbeugsame
Mohammad Rasoulof, geboren 1972 in Schiras, studierte Soziologie in Teheran. Mit dem Korruptionsdrama «A Man of Integrity» (2017), seinem sechsten langen Spielfilm, gewann er die Nebensektion «Un Certain Regard» in Cannes, drei Jahre später folgte in Berlin der Goldene Bär für «There Is No Evil» (2020). Zuletzt entzog sich der Regimekritiker einer mehrjährigen Haftstrafe, indem er sich vor der Weltpremiere von «The Seed of the Sacred Fig» in Cannes nach Deutschland absetzte, wo er heute lebt.

Trotzdem hat Rasoulof seine Filme bis zuletzt weiterhin im Iran gedreht, mit europäischem Geld und meist klandestin, unter dem Radar der Behörden. Nach der Weltpremiere von «The Seed of the Sacred Fig» in Cannes, wo der Film mit dem Jurypreis ausgezeichnet wurde, ist der 52-Jährige nicht mehr in den Iran zurückgekehrt. Er lebt seither im Exil in Hamburg, wo er Familie und Verwandte hat und deshalb schon länger auch einen zweiten Wohnsitz hatte. Heimat, sagt er jetzt auf Farsi, sei ja nichts rein Geografisches, sondern etwas, das man mit sich trage. So habe er sich einstweilen für die Heimat entschieden, die er in seinem Herzen trage.
Der Vater in seinem Film trägt anfangs noch einiges an Zwiespalt im Herzen, aber sein Schädel ist leer. So zumindest könnte man das Wort übersetzen, mit dem Rasoulof beim Interview in Locarno das zentrale Thema seines Films benennt: «Sarsepordegi» ist Farsi für Treue, Ergebenheit oder Aufopferung – wobei es eben, ganz wörtlich übersetzt, so viel bedeutet wie: sein Hirn oder seinen Kopf jemand anderem überlassen. Auf Vater Iman (Missagh Zareh) übertragen: Als Untersuchungsrichter hat er seinen Verstand in die Hände des Regimes gelegt. Er verkörpert den leeren Glauben an das System, dem er ergeben dient und dem er seinen sozialen Aufstieg, seinen Wohlstand verdankt. Und nicht nur er: Seine Frau hofft erst mal auf einen Geschirrspüler und bald eine grössere Wohnung.
Zwischen den Fronten
Draussen jedoch erheben sich Proteste, die brutal niedergeschlagen werden. Es ist Herbst 2022 in Teheran, die Zeit der Kundgebungen im Zeichen von «Frau, Leben, Freiheit». Die Töchter empfangen auf ihren Handys ganz andere Perspektiven auf das Geschehen, als was im Fernsehen als Wahrheit ausgegeben wird. Und als die ältere der beiden heimlich eine schwer verwundete Freundin nach Hause bringt, die von der Polizei angeschossen wurde, gerät die Ordnung in dieser bürgerlichen Familie ins Wanken. Mutter Najmeh (Soheila Golestani) verarztet die junge Frau zwar notdürftig, aber zu mehr Barmherzigkeit kann sie sich nicht durchringen. Später versucht sie noch lange, zwischen den Fronten zu vermitteln: hart gegen ihre Töchter, besänftigend zu ihrem Mann. Doch als dem Staatsdiener auch noch seine Dienstwaffe abhandenkommt, ermittelt Iman bald gegen seine eigene Familie.
Er solle doch, so rät ihm sein Vertrauensmann im Büro, seine Töchter von einem psychologisch geschulten Kollegen verhören lassen. Und so, wie Rasoulof diese männlichen Rollen besetzt hat, erscheinen sie überhaupt nicht wie Schergen eines unmenschlichen Systems. Ganz gewöhnliche Typen sind das, sehr ernst und beflissen, es könnten auch Beamte in der Schweiz sein. Und der Verhörspezialist, ein Freund der Familie in Bluejeans und Turnschuhen, wirkt in seinem Habitus wie ein Psychotherapeut.
Das sind keine religiösen Eiferer, und das sei genau der Punkt, sagt Rasoulof: «Man kann sich in jedem System in den Dienst der Macht stellen, sei das nun die Islamische Republik, die Mafia oder die Kommunistische Partei. Es geht dann auch nicht wirklich um Ideologie, wenn man sich der Macht unterwirft, sondern man ordnet sich dieser Ideologie unter, um bestimmte Interessen zu sichern.» Es sei doch interessant, so Rasoulof weiter, wenn man sich das Verhältnis des Gottesstaats Iran zu China und Russland anschaue: «Ideologisch stehen sich diese Länder eigentlich absolut unvereinbar gegenüber. Trotzdem sind sie politische Verbündete – weil sie eben gemeinsame Interessen haben.»
Ordnung um jeden Preis
Auch der Vater in «The Seed of the Sacred Fig» beruft sich vorgeblich auf Gott. Aber er tut es im Interesse dessen, der um jeden Preis die Ordnung wahren will, die seinen Status sichert – wofür er letztlich sogar seine eigene Familie in Geiselhaft nimmt. Dieses Abgleiten in die Paranoia zeigt Rasoulof weitgehend als Kammerspiel, weil er wusste, dass er wiederum nur heimlich würde drehen können. Was sich in den privaten Räumen dieser Familie abspielt, ist politisch – ein kleiner Spiegel des grossen feministischen Aufstands, der sich draussen anbahnt. Und immer wieder streut Rasoulof auch authentische Handyvideos von der Niederschlagung der Proteste ein, gleichsam als dokumentarische Beglaubigung der Fiktion.
Vom subversiven Witz, mit dem ein Jafar Panahi beiläufig die Zwänge des iranischen Regimes vorführt, ist dieser epische Thriller denkbar weit entfernt. Mohammad Rasoulof erzählt ganz klassisch und nicht nur subtil: die Schrotkugeln, die in Zeitlupe im Spülbecken landen, die verschwundene Pistole als symbolische Kastration des Patriarchen. So treibt er diese Familie langsam in die Eskalation – und wartet zuletzt noch mit einem atemberaubenden Finale auf, das man schon jetzt unter die grossen ikonischen Showdowns der Filmgeschichte einreihen darf. Am helllichten Tag entspinnt sich da eine labyrinthische Verfolgungsjagd in abgeschiedener Ruinenlandschaft: spektakulär die Kulisse, aber die Action bleibt leise, ganz ohne Getöse. Keine Spoiler hier, aber zuletzt wirkt das wie eine Wunscherfüllung, wenn die alte Ordnung gewissermassen unter dem Schutt ihrer eigenen Tradition begraben liegt.
Im September 2022, als nach dem gewaltsamen Tod von Mahsa Amini die feministischen Proteste entflammten, bekam Mohammad Rasoulof das nur indirekt mit – er sass gerade im Gefängnis. Es klingt wie eine bittere Ironie, was man ihm damals zur Last legte: Gefährdung der öffentlichen Ordnung, weil er eine Petition gegen Polizeigewalt unterzeichnet hatte. Es war dann eine Begegnung mit einem Gefängniswärter, die bei ihm die Idee zu «The Seed of the Sacred Fig» keimen liess. Bei einem Zellenbesuch soll dieser, ein leitender Beamter, zum Regisseur gesagt haben: «Jeden Tag, wenn ich dieses Gefängnis betrete, frage ich mich, wann ich mich an dieser Tür erhängen werde.»
«The Seed of the Sacred Fig». Regie und Drehbuch: Mohammad Rasoulof. Deutschland / Iran 2024. Jetzt im Kino.