Pop: Ukrainischer Schnurrbart-Funk

Nr. 46 –

Albumcover «Even the Forest Hums. Ukrainian Sonic Archives 1971–1996»
Various artists: «Even the Forest Hums. Ukrainian Sonic Archives 1971–1996». Light in the Attic. 2024.

Dass es in den 1970er bis 1990er Jahren in der Ukraine eine eigenständige popkulturelle Szene gab, ist im Westen bis heute kaum bekannt. Einige ukrainische Rock-, Jazz-, Folk- und Punkbands gingen seinerzeit den langen Weg durch die Sowjetzensurbehörden, andere agierten im Untergrund. Einen ganzen Schatz aus 25 Jahren ukrainischer Musik hat nun das Label Light in the Attic gehoben.

Auf dem Sampler «Even the Forest Hums. Ukrainian Sonic Archives 1971–1996» macht es viele Musiken wieder zugänglich, die nirgends mehr zu finden waren. So kann man unter anderem Songs aus der sogenannten Mustache-Funk-Ära entdecken: Die Band Kobza, 1971 in Kyjiw gegründet, verbindet etwa im Song «Bunny» Sixties-Sound und Folk mit kalifornischer Leichtigkeit; Flöten, Orgel und dezente Bläser erzeugen eine swingende Musik. Auch im Song «Remembrance» der Gruppe Vodohrai sind die Flöten auffällig, dazu gesellen sich Funkgitarrenlicks und ein Jazzpiano, das Stück bildet den Experimentiergeist der Siebziger gut ab. Man bekommt einen guten Eindruck, wie der «Schnurrbart-Funk» damals klang – und die Fotos der Bands machen ersichtlich, wie der Genrename entstanden ist.

Wie klassische ukrainische Folklieder im Pop adaptiert wurden, zeigen vor allem die beiden Stücke des Produzenten Kyrylo Stetsenko (ein Enkel des gleichnamigen bekannten Komponisten). In den achtziger Jahren macht er aus dem Volkslied «Play, the Violin, play» einen Abba-mässigen Discotrack, auf dem die ukrainische Popsängerin Tetiana Kocherhina singt. Auch das Lied «Oh, how, how» transportiert er in jene Zeit, indem er ein typisches Eighties-Stück mit hüpfenden Synthies und Saxofonsoli kreiert. Die Vielfalt des Samplers beeindruckt: Vom Ambientsound des Komponisten Iury Lech über die vom Krautrock beeinflusste Kyjiwer Band Krok bis hin zu Glockenspiel-Experimentals von Valentina Goncharova – sehr unterschiedliche Popströmungen sind vertreten. Die Erlöse aus der überdies toll gestalteten Kompilation gehen an das Kollektiv Livyj Bereh, das sich für den Wiederaufbau in der Ukraine engagiert.