Nordgaza: Fliehen, aber wohin?
Vieles weist darauf hin, dass Israel im Norden des Gazastreifens ethnische Säuberungen durchführt. Die Flucht von dort reisst Familien auseinander – und bringt doch keine Sicherheit.

Als die israelische Armee Anfang Oktober ihre jüngste Offensive in Nordgaza startet, stehen die Geschwister Enas und Kassim vor einer schweren Entscheidung: fliehen oder bleiben? Das Haus ihrer Familie liegt am nördlichsten Rand von Beit Lahia, unweit der israelischen Grenze. Ihr ganzes Leben haben sie dort verbracht. Ihr Grossvater will und kann das Haus nicht verlassen, und auch sie selbst fürchten, vielleicht nie wieder zurückkehren zu dürfen.
Sie hätten die Bilder von religiös-extremistischen israelischen Aktivist:innen gesehen, die sich hinter der Grenze darauf vorbereiteten, jüdische Siedlungen auf den Trümmern der palästinensischen Städte zu errichten, erzählen Enas und Kassim. Doch die Explosionen und die israelischen Soldat:innen rücken näher. Und das Überleben wird auch so immer schwerer: Seit Wochen haben kaum noch Hilfslieferungen den nördlichsten der fünf Bezirke des Gazastreifens erreicht. Laut Uno halten sich derzeit noch rund 95 000 Menschen im Bezirk Nordgaza auf, etwa ein Fünftel der Vorkriegsbevölkerung. Die unabhängige IPC-Initiative für Nahrungsmittelsicherheit warnt, dort stehe eine Hungersnot «unmittelbar bevor».
Den Oktober über beobachten Enas, Kassim und ihre Nachbar:innen in Beit Lahia angespannt, wie die Armee in die Nachbarstadt Dschabalia vorrückt. Laut Israel gilt die Offensive neu gruppierten Hamas-Mitgliedern in dem Gebiet. Soldat:innen stürmen die letzten noch teilweise arbeitenden Spitäler, Bomben fallen auf Wohnhäuser und auf zu Notunterkünften umfunktionierte Schulen.
Am 6. November, als die Armee die Bodenoffensive auf Beit Lahia ausweitet, entschliessen sich die 24-jährige Enas und der Grossteil der Familie zur Flucht in den Süden. Nach Gaza-Stadt sind es nur wenige Kilometer. Kassim, ihr 26-jähriger Bruder, bleibt mit dem 75-jährigen Grossvater zurück. Der volle Name ihrer Familie ist der Redaktion bekannt, in der Zeitung gedruckt wissen wollen sie ihn aus Sicherheitsgründen nicht.
Allen ist klar, worauf die Zurückbleibenden sich einlassen: Es ist bereits das dritte Mal binnen eines Jahres, dass die Armee in das heute weitgehend zerstörte Beit Lahia eindringt. «Bei Luftangriffen kommen mittlerweile keine Krankenwagen mehr», berichtet Kassim eine Woche nach der Flucht seiner Schwester am Telefon. In den Spitälern können die wenigen verbliebenen Ärzt:innen kaum noch etwas für Kranke und Verletzte tun. «Wir wickeln die Toten in Plastiktüten statt in Tücher, und wir begraben sie auf der Strasse statt auf Friedhöfen», erzählt Kassim.
Von Drohnen bedroht
Enas und die Familie fliehen zu Fuss. «Wir sind aufgebrochen mit Hunderten anderen, bei uns nur, was wir tragen konnten», sagt sie am Telefon. Der Fluchtweg führt durch das belagerte Dschabalia. Als sie die Salah-al-Din-Strasse im Osten der Stadt erreichen, stoppen israelische Soldaten die Fliehenden. «Sie haben Frauen und Kinder auf die eine Seite und meinen Vater und meinen fünfzehnjährigen Bruder auf die andere geschickt», sagt Enas. Als die Familie auf die beiden warten will, fordert eine Drohne sie per Lautsprecher auf, weiterzugehen.
«Ich erinnere mich an die schweren Taschen auf meinen Schultern, die Bitten meiner elfjährigen Zwillingsschwestern, die ihre Rucksäcke nicht mehr tragen konnten, und die Angst vor der surrenden Drohne über unseren Köpfen», sagt Enas. Sie habe zuvor gesehen, wie solche Quadrokopterdrohnen «auf alles schiessen, was sich auf der Strasse bewegt».
Zahlreiche Palästinenser:innen haben von Schüssen auf Flüchtende berichtet. Die «New York Times» hat ein Video verifiziert, das eine Gruppe Flüchtende am 7. Oktober zeigt, die in Dschabalia unter Beschuss kommt. Palästinenser:innen haben israelische Soldat:innen dafür verantwortlich gemacht. Die Armee hingegen wirft der Hamas vor, Menschen von der Flucht abhalten zu wollen. Beides lässt sich nicht verifizieren. Enas’ Gruppe gerät während der Flucht nicht unter Beschuss. «Einige Soldaten haben uns gedroht, auf uns zu schiessen, wenn wir nicht weitergehen würden», sagt sie. Ein anderer Soldat habe ihnen auf ihre Bitte hin Wasser gegeben.
Missbrauch und Folter
Am Abend stossen Vater und Bruder in Gaza-Stadt wieder zum Rest der Familie. Sie berichten, wie Dutzende Männer gezwungen wurden, sich auszuziehen. Ihnen seien weisse Kittel angezogen und Augenbinden angelegt worden. Ein vom britischen Sender Sky News verifiziertes, am 23. Oktober hochgeladenes Video zeigt eine solche Verhaftung in Dschabalia. Die genauen Umstände der Aufnahme sind unklar. Als ihr Bruder an die Reihe gekommen sei, habe ihm ein Soldat mit dem Gewehrkolben auf den Kopf geschlagen und ihm befohlen, sich vor eine Kamera zu stellen, erzählt Enas. Einige seien gefesselt abgeführt worden. Laut der israelischen Armee würden «Verdächtige für weitere Befragungen nach Israel gebracht». Israel hat nach eigenen Angaben im Oktober laut einem Bericht der «New York Times» 500 Hamas-Kämpfer festgenommen und 750 getötet.
Laut der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Addameer sitzen in israelischen Gefängnissen derzeit rund 10 000 Palästinenser:innen, mehr als 3000 in Administrativhaft ohne Anklage oder bekannte Vorwürfe. Hinzu kommt eine unbekannte Anzahl gefangener Palästinenser:innen aus Gaza. Die israelische Armee sagt, in Gaza Festgenommene würden «in Übereinstimmung mit internationalem Recht» behandelt. Freigelassene berichten jedoch von Gewalt und erniedrigenden Behandlungen.
Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem spricht unter Berufung auf 55 Aussagen von freigelassenen Palästinensern von «systematischen Misshandlungen und Folter». Enas erzählt, ihr fünfzehnjähriger Bruder habe vor Angst gezittert, als ihn die Soldaten von der Familie trennten.
Seit ihrer Ankunft ist die Familie im zerstörten Gaza-Stadt auf der Suche nach einem Ort, wo sie bleiben kann. Die Frauen schlafen jeden Tag in anderen Unterkünften oder Hausruinen, Enas’ Vater und ihr Bruder in einem kleinen Zelt, das sie bei der Flucht mitnehmen konnten. Kassim hat mit seinem Grossvater schliesslich doch Zuflucht in einer Unterkunft für Geflüchtete im Zentrum von Beit Lahia gesucht. «Auf dem Weg dahin haben wir Leichen auf der Strasse liegen sehen, an denen Hunde und Katzen gefressen haben. Eine haben sie in zwei Teile zerrissen. Ich werde diese Szene nie vergessen», sagt er.
Israelischer Hungerplan
Jetzt schläft Kassim mit seinem Grossvater in einer ehemaligen Schule. Sicher sind sie auch dort nicht, Israel hat in den vergangenen Monaten regelmässig solche Unterkünfte bombardiert und von Angriffen auf Hamas-Kontrollzentren gesprochen. Hinzu kommen Hunger und Durst: «Es gibt kaum noch Nahrungsmittel, die Marktstände sind verschwunden», sagt Kassim. Für ein Kilo Gurken, das früher umgerechnet fünfzig Rappen gekostet habe, könne man heute dreissig Franken bezahlen. Auch Konserven seien teuer und oft abgelaufen. Besonders Kinder seien unterernährt. «Meine Grossmutter ist gestorben, weil wir zu wenig zu essen hatten und sie keine Diabetes-Medikamente mehr bekam», sagt Kassim.
Seine Tante starb an einem Herzinfarkt, der nicht behandelt werden konnte. Laut palästinensischen Angaben wurden seit Oktober 2023 mehr als 43 000 Bewohner:innen des Gazastreifens getötet, mehr als 100 000 verletzt. Das Uno-Menschenrechtsbüro legte Anfang des Monats eine Berechnung vor, der zufolge in der Altersgruppe der Fünf- bis Neunjährigen am meisten Getötete gezählt wurden.
Menschenrechtsgruppen und Hilfsorganisationen werfen Israel vor, durch seine Blockade von Hilfslieferungen Hunger als Kriegswaffe einzusetzen. Seit Monaten ist die Zahl der humanitären Hilfstransporte drastisch gefallen. Die USA verlangten, dass spätestens nach dreissig Tagen täglich mindestens 350 Lastwagen nach Gaza gelassen werden. Die Frist verstrich am 12. November, ohne das Israel die Forderung erfüllt hätte. Gerade einmal 12 600 Tonnen Nahrungsmittel waren in der ersten Novemberhälfte nach israelischen Angaben in den Küstenstreifen gelangt. Im ganzen Monat Mai waren es noch 117 000 Tonnen. Kaum etwas gelangt in den Norden.
Auch wenn die israelische Regierung es mehrfach dementiert hat: All das klingt im Wesentlichen wie eine teilweise Umsetzung dessen, was in Israel im September als «Plan der Generäle» bekannt geworden ist. Dieser Vorschlag ehemaliger Offiziere sieht vor, alle Zivilist:innen aus dem Norden des Gazastreifens zu evakuieren und anschliessend alle verbliebenen Menschen auszuhungern. «Die israelische Armee sagt, dass sie nur die Militanten im Norden zerstören will, aber stattdessen zerstören sie alles: Zivilisten, Häuser, Felder», sagt Kassim. «Unsere Lebensgrundlagen wurden zerstört, um uns zur Flucht zu zwingen.»
Expert:innen bezweifeln den militärischen Nutzen der Massnahme: Die Hamas könne nach der Umsetzung schlicht zurückkehren, wie sie das nach den zwei vergangenen Offensiven im Norden getan habe.
«Wir haben Angst, dass Israel das Gebiet besetzen wird», sagt Kassim. «Ich bin im Norden geblieben, damit es für meine Familie eine Hoffnung auf Rückkehr gibt.» Seine Befürchtungen sind nicht ohne Grund. Am 21. Oktober veranstaltete die israelische Siedler:innenorganisation Nachala eine Konferenz zur Wiederbesiedlung Gazas in direkter Nähe zum Grenzzaun. Unter den Teilnehmer:innen waren auch mehrere Minister und Abgeordnete aus der Likud-Partei von Premierminister Benjamin Netanjahu.
Je nach Umfragen befürworten dreissig bis vierzig Prozent der israelischen Bevölkerung eine israelische Wiederbesiedlung des Gazastreifens. Zusätzlichen Schwung könnte die Bewegung zudem durch die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten bekommen: Er will den evangelikalen und siedler:innenfreundlichen Mike Huckabee zum neuen US-Botschafter in Israel ernennen.
In einem Pressebriefing äusserte ein israelischer General vor rund zwei Wochen, es gebe «keine Absicht, den Bewohnern im Norden eine Rückkehr zu erlauben». Die Armee ruderte einen Tag später zurück: Die Zitate seien aus dem Kontext gerissen und würden «nicht die Werte und Ziele der Armee widerspiegeln». Israels neuer Aussenminister Gideon Saar sagte, die Bewohner:innen könnten nach dem Krieg zurückkehren.
Reue nach der Flucht
In Gaza, wo viele Nachkommen von 1948 aus dem heutigen Israel vertriebenen Palästinenser:innen leben, schenkt man solchen Beteuerungen wenig Vertrauen. Sowohl Uno-Generalsekretär António Guterres als auch die israelische Zeitung «Haaretz» warnten angesichts der vollständigen Abriegelung des Nordens vor «ethnischen Säuberungen». Dem will Kassim nicht nachgeben: «Am Ende ist es nirgendwo in Gaza sicher für uns», sagt er. Er habe auch Freund:innen verloren, die in die «humanitäre Zone» im Süden geflohen seien. «Der Tod wartet hier überall.»
Enas in Gaza-Stadt bereut die Flucht, trotz der Gefahr im Norden: «Ich glaube nicht, dass sie uns in unser Haus zurückkehren lassen.» Der Krieg hat so viel zerstört, im Gazastreifen und in jedem einzelnen seiner Bewohner:innen. «Was wollen sie noch von uns?», fragt sie an Israel gerichtet und fügt hinzu: «Ich wünschte, ich wäre geblieben. Wenn der Tod mich dort erreicht hätte, ich wäre zufriedener, als ich es hier bin.»