Ausstellung: Die Enge sprengen
Das Kunstmuseum St. Gallen zeigt die vergessene Künstlerin Anne Marie Jehle: Eine Schau zwischen ironischer Verspieltheit und einem latenten Unbehagen.

Aus dem Augenwinkel sieht der Christbaum in der Ecke etwas schütter aus; auf den zweiten Blick erweist er sich als Notenständer. Anne Marie Jehle hat Kunststoffzweige daran angebracht, Glaskugeln, eine Lichterkette, Lametta. Dazwischen hängen Polaroids, die Jehles aufgerissenen Mund zeigen. Singt sie? Oder schreit sie?
Anne Marie Jehle wird 1937 in Feldkirch in einen bürgerlichen Haushalt geboren. Der Vater ist Bauunternehmer; Jehle arbeitet als Sekretärin in seiner Firma, ehe sie sich Mitte der sechziger Jahre für ein Leben als Künstlerin entscheidet. Sie ist Autodidaktin, beschäftigt sich mit der Fluxus-Bewegung, dem Nouveau Réalisme und der Feministischen Avantgarde.
Auf dem Höhepunkt ihres Schaffens ist Jehle in der internationalen Kunstwelt gut vernetzt. Einer ihrer engen Freunde ist der Kunstsammler Wolfgang Feelisch, der mit seinem Vice-Versand serienmässig hergestellte Kunstwerke von namhaften Künstlern wie Joseph Beuys, Robert Filliou oder Nam June Paik verlegt. Ganz im Sinne des Fluxus sollte Kunst so für jede und jeden zugänglich werden.
Erotik und Katholizismus
Ein Prospekt mit solchen Multiples aus Feelischs Sammlung liegt in St. Gallen auf. Neben Arbeiten von Filliou und Beuys sind darin Jehles «Eisbecher auf Serviertablett» (1975) abgebildet, die auch in der Werkschau zu sehen sind: sechs grazile Silberkelche, in denen – kirschengleich in Schlagrahm gebettet – sechs rosafarbene Eicheln sitzen. Zum Anbeissen sehen sie aus. Mit einem Augenzwinkern macht die Künstlerin den männlichen Körper zum Objekt, die eigene Lust zur Spielerei.
Im katholischen Vorarlberg blieb Jehle mit ihrer erotischen Kunst eine Aussenseiterin. Dabei ist diese Herkunft ein zweites grosses Motiv, das sich wie ein roter Faden durch ihre Objekte, Collagen, Fotografien und Texte zieht. Da ist viel Sakrales: kirchenfenstergleiche Glasmalereien, eine Orgelpfeife, die, mit Engelsflügeln besetzt, zum phallischen Objekt wird. Immer wieder sind Gebete in die Werke eingearbeitet, die in subversiver Verkehrung die patriarchale Dreifaltigkeit parodieren: Kinder, Küche, Kirche.
«Für Vorarlberg sind Se halt zwiit voruus», notierte Jehle einmal über sich selbst. Dennoch blieb sie fast ihr ganzes Leben lang in ihrem Elternhaus wohnen. Die vertraute Enge der Heimat – vermutlich tun die Münder am Christbaum also beides, sie schreien und singen zugleich.
«Don’t cry, work»
Ihr Elternhaus war für Jehle Atelier, Wohn- und Ausstellungsort in einem. In seinen Räumen schuf sie ein künstlerisches Universum, das über 1600 Werke umfasst, wovon 137 nun in St. Gallen zu sehen sind. Jehle arbeitete mit den Materialien, die sie fand, und lebte wiederum mit dem, was sie schuf. Auf den Innenaufnahmen aus ihrem Haus, die im Kunstmuseum auf Stoffbahnen vergrössert von den Decken hängen, lässt sich manches entdecken, das nun in den Ausstellungsräumen steht. Etwa eine Glasvitrine voller Penisbrötchen, die Jehle 1977 für die Besucher:innen einer ihrer Vernissagen buk; oder ein Sofa, das sie mit einem Patchwork aus Wollgarnen überzog. Überhaupt gibt es in der Werkschau viel Gestricktes, Gebackenes und Gehäkeltes zu sehen. Wenn das Private politisch ist, wird auch Handwerk zu Kunst.
In der Ausstellungslogik, die anhand von thematischen Zugängen wie «Heimat und Identität», «Selbstbild» oder «Körperlichkeit» immer neue Blicke auf Jehle wirft, droht gerade dieser Aspekt unterzugehen. So reproduziert ausgerechnet der letzte Raum, der dem Themenkomplex «Macht und Weltpolitik» gewidmet ist, die Dichotomie des Öffentlichen und des Privaten, die Jehle mit ihrer Kunst infrage stellte. Dort liegt etwa ein Geldschein, den sie lackiert und mit einer Baumwollbordüre versehen hat. Was ist das nun: ein Machtsymbol? Eine Häkeldecke? Hätte er nicht genauso gut in den Raum gepasst, der sich ums Häusliche dreht?
Jehle verhandelte grosse Themen der Frauenbewegung ihrer Zeit. Trotzdem sah sie sich nicht als Feministin. Warum, lässt die Ausstellung offen – was daran liegen mag, dass man über Jehle vieles nicht weiss. Vielleicht findet sich ein Teil der Antwort bei Meret Oppenheim; neben Joseph Beuys war sie Jehles wichtigste künstlerische Bezugsgrösse. Auch Oppenheim wollte sich nicht als Feministin verstanden wissen. Auf ihre Rolle als Surrealistin in einem männerdominierten Umfeld angesprochen, soll sie geantwortet haben: «Don’t cry, work.» Anne Marie Jehle wiederum verkürzte ihren Vornamen meist auf seine geschlechtsneutralen Initialen «A. M.».
Kunsthaus, Haushalt
Mitte der achtziger Jahre zog sich Jehle aus der Kunstwelt zurück und lebte zunehmend einsam; ein merkwürdiger Bruch in ihrer Biografie. War es der Tod der Mutter 1984, mit der sie bis zuletzt zusammengelebt hatte? Oder gar jener von Joseph Beuys zwei Jahre später? Die Fotografien aus ihrem Haus haben jedenfalls etwas Beklemmendes. Jehle hat Möbel und Wände vollgesprayt, überall Chaos. 1989 zog sie in die USA. Zuvor packte sie viele ihrer Arbeiten in Kisten, die sie, über und über mit Klebeband umwickelt, datiert und signiert auf den Dachboden verfrachtete, versiegelte das Haus und betrat es nie mehr.
Eine ihrer bekanntesten Arbeiten zeigt die Künstlerin, wie sie an einer übergestülpten Tragtasche des Kunsthauses Zürich zu ersticken droht. Vielleicht lässt sich ihr Weggang als finale Umdeutung des Zuhauses lesen: vom Haushalt zum Kunsthaus. Beengend ist beides.
«Jeder Spiesser ein Diktator» in: St. Gallen Kunstmuseum; bis 9. März 2025. www.kunstmuseumsg.ch