Literatur: Im wurmstichigen Häuschen

Die Zukunft ist schon da, bloss merkt man das nicht gleich. Frankreich wird in Marion Messinas Roman «Die Entblössten» von einer Präsidentin regiert, in der Marine Le Pen und Emmanuel Macron erschreckend nahtlos miteinander verschmelzen. Vor der französischen Nationalversammlung hat sich ein junger Mann in Brand gesetzt: verzweifeltes Opfer eines unbarmherzigen Klassensystems, aber auch ganz konkret einer Bande von zynischen, reichen Schnöseln. An seiner öffentlichkeitswirksamen Selbstverbrennung entzünden sich Aufstände in den Pariser Strassen, die von den Ordnungskräften der protofaschistischen Regierung niedergeknüppelt werden.
Es ist nicht der erste gelbwestenartige Flächenbrand in der französischen Gegenwartsliteratur. Die 34-jährige Marion Messina wird auch deshalb immer wieder mit Michel Houellebecq verglichen. Ähnlichkeiten sind nicht ganz von der Hand zu weisen, doch Messina schreibt konziser, und vor allem zeichnet sie ihre Figuren diverser als Houellebecq, der in seinen Romanen meist notdürftig maskierte Kopien seiner selbst ins Elend schickt. Messinas «Entblösste» sind etwa eine privat wie beruflich überforderte Pariser Lehrerin; ein erschöpfter, wütender Biobauer; ein Sohn reicher Eltern, der in seinem wurmstichigen Häuschen in der Ardèche und als Supermarktmetzger den vorsätzlichen Klassenabstieg probt. Sie sind lose über die Aufstände miteinander verknüpft – aber vor allem über eine durch alle Schichten und Landstriche sickernde Hoffnungslosigkeit, in der einzig das Recht der Reicheren gilt. Messinas Schilderungen dieser sozialen Depression sind nicht frei von Pathos und groben Zuspitzungen. Zugleich weiss die studierte Agrarwissenschaftlerin und Politologin einiges über die existenziellen Nöte in den Städten und auf dem Land. Schade nur, dass sie in ihrer tristen nahen Zukunft bloss zwei opportunistische Hochstapler halbwegs obenauf schwimmen lässt.