Polizeireformen in Frankreich: Kein blaues Wunder

Nr. 38 –

Mehr PolizistInnen, Körperkameras und schnellere Strafen: Die von Präsident Emmanuel Macron angekündigten Massnahmen setzen auf Aufrüstung – anstatt die grassierende Polizeigewalt in den Blick zu nehmen.

Ein völlig überzogener Einsatz: Polizeikräfte lösen im Juni in Redon im Nordwesten Frankreichs eine Technoparty auf. Foto: Loic Venance, Keystone

Für Amnesty International Frankreich ist es fast schon zum traurigen Ritual geworden, regelmässig Fälle von umstrittener Polizeigewalt zu untersuchen: akribisch, kritisch und stets mit Blick auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Die jüngste Untersuchung der Organisation betrifft einen Polizeieinsatz Mitte Juni, als die Polizei bei einer Technoparty im bretonischen Örtchen Redon sieben Stunden lang mit Tränengaspetarden und Geschossen gegen junge Leute vorging, um die Feier aufzulösen. Bei der Auseinandersetzung wurden Dutzende Feierende und PolizistInnen verletzt, es kam zu Verbrennungen, Knochenbrüchen, offenen Wunden, Panikattacken, Atemnot; einem Mann wurde durch ein Geschoss die Hand abgerissen. Die eindeutige Bilanz von Amnesty nach Befragung von zahlreichen AugenzeugInnen lautet: Die Operation der Ordnungskräfte in Redon war weder angemessen noch notwendig.

Umso eindringlicher appelliert die Präsidentin von Amnesty International France, Cécile Coudriou, an den französischen Staat: «Die Ordnungskräfte müssen die Menschenrechte und die Prinzipien der Vereinten Nationen respektieren, was den Gebrauch von Gewalt angeht, um die Sicherheit von Personen garantieren zu können. Davon hängt ihre Legitimität ab: Das Vertrauen, das die Bevölkerung ihnen entgegenbringt, droht verloren zu gehen, wenn Gewalt auf exzessive, illegale oder übertriebene Weise angewendet wird.» Der Bericht von Amnesty erschien pünktlich kurz vor dem Ende der Beratungen über die Reform der französischen Polizei, denn das Problem übermässiger Gewalt ist nicht neu und Redon kein Einzelfall.

Vor allem Imagepflege

Letzte Woche reiste Präsident Emmanuel Macron persönlich in eine Polizeischule in der Stadt Roubaix im Norden des Landes, um vor den Anwesenden neue Massnahmen zu verkünden, von denen er sich erhofft, einerseits das Image der Polizei in der Bevölkerung zu verbessern, andererseits aber auch den Missmut in den Polizeireihen zu besänftigen. Zugegeben: Die BeamtInnen stehen seit Jahren unter Dauerstress, weil sich die Krisen, von denen das Land eingeholt wird, in hoher Frequenz ablösen. Auf den Ausnahmezustand nach den dschihadistischen Attentaten 2015 folgten die vielen Proteste gegen Macrons neoliberale Agenda, der Aufstand der Gelbwesten und die Pandemie.

Entsprechend wenig verwunderlich war die erste Botschaft des Präsidenten, es werde «vor Ort mehr Blau zu sehen sein». Im Laufe der nächsten zehn Jahre will Macron die Zahl der PolizistInnen auf Frankreichs Strassen verdoppeln – und plant ein schickes neues Tenue für sie. Darüber hinaus sollen die Einsatzkräfte mit Körperkameras ausgerüstet werden, um das Vertrauen der Bevölkerung wieder zu stärken. Dabei bleibt jedoch fraglich, auf wie vielen Videoaufnahmen Gewalt gegen die Polizei zu sehen sein wird und was mit den Bildern von Polizeigewalt geschieht. Daneben sollen als Reformmassnahme Strafverfahren künftig abgekürzt werden, um den Bürokratieaufwand abzubauen. Fast eine Stunde dauerte die Rede des Präsidenten in Roubaix, aufmerksam verfolgt von Innenminister Gérald Darmanin, der sich medientauglich zwischen zwei junge Polizistinnen in Uniform platziert hatte. Überhaupt waren in Roubaix auffällig viele Frauen zu sehen, wohl, um ein freundlicheres Bild der Institution Polizei zu zeichnen.

Tränengas verbieten

Unstrittig ist allerdings, dass bei den Wahlen das Thema innere Sicherheit stets zu den wichtigsten gehört. Die angekündigten Massnahmen sind also auch Teil von Macrons Wahlkampfstrategie gegen die rechtsextreme Kandidatin des Rassemblement National, Marine Le Pen, die wohl erneut gegen ihn in die Stichwahl einziehen wird. Die Tochter des Parteigründers Jean-Marie Le Pen äusserte sich zu Macrons Plänen in gewohnter Manier: «Jedes Mal, wenn Macron sich beim Thema Sicherheit einmischt, dann dient es dazu, auf die Polizisten einzudreschen. Ich würde es begrüssen, er täte dies mit den Straftätern und Kriminellen. Er hegt Argwohn gegenüber der Police nationale.»

Doch wer der Rede Macrons in Roubaix lauscht, gewinnt einen komplett anderen Eindruck: Von einem Strategiewechsel in Richtung Deeskalation, von einem beherzten Vorgehen gegen die Gewaltexzesse in den eigenen Reihen ist überhaupt nicht die Rede. Exakt vierzehn Mal fällt das Wort «Gewalt», doch ausschliesslich in Zusammenhang mit Gewalt gegen die Einsatzkräfte – nie aber in Bezug auf jene Gewalt, die sie selbst produzieren. Dabei empfiehlt der Bericht von Amnesty International zum Fall Redon, den Gebrauch von Tränengas und Gummigeschossen zu verbieten, mahnt strukturelle Reformen an und fordert, ein unabhängiges Organ zu schaffen, das die Anzeigen gegen Ordnungskräfte untersucht. Doch zu all diesen Vorschlägen gibt es in Macrons Rede wenige bis keine Antworten. So ist zu befürchten, dass sich düstere Vorfälle wie in Redon auch in Zukunft wiederholen. Vor Amnesty International in Frankreich liegt noch jede Menge Arbeit.