Rap vor Gericht: Als wären Poesie und Person eins

Nr. 48 –

In einem US-Gerichtssaal werden Lyrics des Rappers Young Thug vorgelesen. Das sagt vor allem etwas über die Angst des weissen US-Amerika vor Schwarzer Kultur aus.

Jeffery Williams alias Young Thug im Januar vor Gericht
Schwarze Kunst vor Gericht: Jeffery Williams alias Young Thug im Januar bei der Verhandlung gegen ihn. Foto: Arvin Temkar, Imago

Nach fast dreijährigem Gerichtsverfahren, dem längsten in der Geschichte des US-Bundesstaats Georgia, tritt Jeffery Williams vor die Richterin und macht den moralischen Kniefall: Er habe aus seinen Fehlern gelernt, entschuldige sich. Er sei sich seines Einflusses auf Jugendliche bewusst. Er habe in seinem Leben vor allem schlechte, aber auch ein paar gute Sachen erlebt, über die er rappen könne. Ehrlich gesagt, fährt die Richterin fort, klinge dieser Rap doch oft wie eine «moderne Version von Wrestling». Sie erwähnt einen Teenager, der einen Gleichaltrigen erschoss, leider sei es das, was Rap bewirke. «Sogar wenn Sie beschliessen, weiterhin Rap zu machen, sollten Sie Ihren Einfluss dazu nutzen, Jugendlichen zu zeigen, dass das nicht der richtige Weg ist.»

Es sind die krönenden Schlussworte eines skandalösen Prozesses. Er reiht sich ein in die Geschichte einer juristischen Praxis, mit der US-Strafverfolger:innen seit Ende der achtziger Jahre die Hip-Hop-Kultur benutzen, um Schwarze Männer zu verfolgen. Dazu operieren sie mit einem Kurzschluss zwischen Rap und Gewalt, der letztlich auf rassistischen Stereotypen basiert. Wie in Hunderten Fällen davor wurden auch in diesem Prozess vor dem Gericht von Fulton County in Atlanta wieder Rap-Lyrics als Beweismaterial zugelassen und vorgebracht. Speziell an diesem Fall ist, wie prominent der angeklagte Rapper ist.

Jeffery Williams ist besser bekannt als Young Thug. Unter diesem Namen ist der 33-Jährige einer der einflussreichsten und originellsten Rapper der Gegenwart (siehe WOZ Nr. 25/20). Das Pseudonym wirkt nun wie eine Prophezeiung: «Thug» bedeutet Gangster – und wird meist verwendet, um auf abwertende Weise einen Schwarzen Mann zu bezeichnen. In Atlanta angeklagt war Williams nicht einfach als einer, der gegen das Gesetz verstossen habe, sondern auch als Rapper – als eine Figur, deren aufwieglerische, die guten Sitten bedrohende Wirkung das weisse US-Amerika seit über vierzig Jahren fürchtet und bekämpft.

Ein Gangster wie Trump

Alles an diesem Prozess war auf den dicken Fisch ausgerichtet. Mit Young Thug, der im Mai 2022 verhaftet wurde, waren 27 weitere Männer angeklagt, etwa der bekannte Rapper Gunna, der bei Thugs Label YSL Records unter Vertrag ist. Dieses Label (ausgeschrieben Young Stoner Life Records), so die Anklage, sei zugleich eine kriminelle Strassengang und Young Thug ihr Anführer. Die Anklage lief unter einem in Georgia geltenden Gesetz gegen organisierte Kriminalität, mit dem Individuen für die Verbrechen einer Organisation verantwortlich gemacht werden können. Absurderweise wurde unter dem sogenannten Rico-Gesetz (das Kürzel steht für Racketeer Influenced and Corrupt Organizations) auch Donald Trump angeklagt, weil er 2020 versucht hatte, das Wahlergebnis in Georgia zu kippen.

Das Strafmass für alle Punkte der Anklage – darunter auch die Beteiligung an der Organisation eines Mordes – hätte 120 Jahre betragen. Um freizukommen, bekannte sich Williams Ende Oktober in einigen Punkten schuldig, etwa der Teilnahme an Gangaktivitäten oder des Besitzes von Drogen sowie einer illegalen Maschinenpistole. Weil sich Anklage und Verteidigung nicht auf ein Strafmass zu einigen vermochten, konnte die Richterin die Bewährungsauflagen festlegen.

Diese Auflagen sind drakonisch. Nach der Freilassung blieben Young Thug 48 Stunden, um seine Heimatstadt, die Rapmetropole Atlanta, zu verlassen. Zurückkommen darf er während zehn Jahren nur noch für wichtige familiäre Termine. Mit regelmässigen Präsentationen muss er zudem Schulklassen über Ganggewalt aufklären. Die Bewährungszeit beträgt fünfzehn Jahre, bei einem Verstoss drohen zwanzig Jahre Haft. Williams kann während dieser Zeit jederzeit und ohne begründeten Verdacht durchsucht oder zu einem Drogentest aufgeboten werden. Und es ist ihm verboten, Gangs zu promoten. Die Auflage ist so schwammig formuliert, dass sie auch dazu benutzt werden könnte, ihn über seine Lyrics zu kriminalisieren. Das dürfte seine zukünftige Arbeit als Rapper negativ beeinflussen – fünfzehn Jahre sind für einen Künstler eine Ewigkeit.

Boss im Ghetto

Dass bei dieser Art von Straftat überhaupt eine Bewährung verhängt werde, sei ungewöhnlich, sagte Fiona Doherty, Professorin an der Yale Law School, gegenüber der «New York Times». Wollte die Justiz am bekannten Rapper ein Exempel statuieren? Auf ein tendenziöses Verfahren weisen auch diverse Ungereimtheiten hin. So wurde etwa bekannt, dass sich das Gericht heimlich mit einem wichtigen Zeugen traf, der sich nicht kooperativ zeigte, um ihn unter Druck zu setzen. In der Folge wurde der Richter ausgetauscht.

Dazu passt, dass im Verfahren einzelne Songzeilen von Young Thug und weiteren angeklagten Rappern als Indizien zugelassen wurden. «Die Lyrics werden verwendet, um die Rolle von YSL als kriminelle Vereinigung zu belegen», begründete das ein Staatsanwalt. Die Verteidigung berief sich auf die Trennung von Kunst und Person und befürchtete eine unfaire Beeinflussung von Jurymitgliedern, die Vorurteile gegenüber Rap hegen.

Eine Zeile wie «I was a capo in the hood» – man kann sie mit «Ich war ein Mafiaboss im Ghetto» übersetzen – wird als Bekenntnis zur eigenen Rolle als Gangleader gelesen. Immer wieder taucht in den verwendeten Lyrics das Wort «slime» auf, Slang für einen engen Freund – etwa in «I swear I am the principal (slime!)» oder «My n***** really be slime and we committin’ them crimes» – , um eine Verbindung zu Gangkultur herzustellen. Für das Akronym YSL von Thugs Plattenlabel ist auch die Verlängerung Young Slime Life gebräuchlich. Gelesen werden die Zeilen auch als Geständnisse von Straftaten, einem Raub etwa («I done did the robbin’») oder der Beihilfe zu einem Mord («I got somethin’ to do with that body»).

Gegen diese Justizpraxis gibt es in der Hip-Hop-Welt breit abgestützten Widerstand. Als Reaktion auf das Verfahren gegen Young Thug forderte ein offener Brief, den Stars wie Megan Thee Stallion, Alicia Keys oder Drake unterschrieben, unter dem Titel «Art on Trial. Protect Black Art» ein nationales Gesetz zum Schutz vor einer Kriminalisierung von Raptexten. Kalifornien kennt bereits ein solches Gesetz, in anderen Bundesstaaten werden ähnliche ausgearbeitet.

Die Praxis, Rap-Lyrics als Beweismaterial vor Gericht zu verwenden, ist verbreitet. In ihrer laufend aktualisierten Datenbank, die unter rapontrial.org einsehbar ist, haben der Literaturwissenschaftler und Hip-Hop-Experte Erik Nielson und die auf Rassismus spezialisierte Rechtswissenschaftlerin Andrea L. Dennis bereits gegen 700 Fälle vor US-Gerichten registriert. Als 2019 ihr Buch «Rap on Trial. Race, Lyrics, and Guilt in America» erschien, waren sie noch bei rund 500 Fällen. Weil diese oft mit einem Deal statt einem Urteil enden und die Angeklagten unbekannt sind, bleiben viele dieser Fälle im Dunkeln.

Geschichte der Segregation

Das Justizsystem behandle diese Texte faktisch als «über einen Beat gereimte Autobiografie», womit ihnen der Status als Kunst abgesprochen werde, schreiben Nielson und Dennis in «Rap on Trial». Gestützt auf die Untersuchung zahlreicher Fälle, machen die Expert:innen klare Tendenzen aus: Wenn die Verwendung von Rap-Lyrics beantragt wird, lassen Gerichte dies in den meisten Fällen auch zu; Rapper, deren Lyrics zu Indizien kriminellen Verhaltens gemacht werden, sind fast ausnahmslos Schwarze oder Latinos; Fälle von Lyrics aus anderen Genres, die vor Gericht landeten, sind äusserst selten. Studien zeigen ausserdem, dass die Vorurteile gegen Rap einen verschärfenden Einfluss auf Urteile haben können.

Das Buch führt die Kriminalisierung von Rap auf die jahrzehntelange, auch in Form von polizeilicher Gewalt ausgeübte Repression gegen die Hip-Hop-Kultur durch das weisse US-Amerika zurück. Diese Repression fusse auf einer tief verwurzelten Angst, Schwarze und Latinos könnten sich über die Grenzen hinwegsetzen, die ihnen die faktische Segregation in US-Städten zugewiesen hatte. So ging die Stadt New York ab Anfang der achtziger Jahre brutal gegen Graffiti sowie gegen Breakdance- und Rap-Battles vor, obwohl die Hip-Hop-Kultur nachweislich zur Verringerung der Gewalt im Stadtteil South Bronx, wo sie entstanden war, beitrug.

Wenn im Verfahren gegen Young Thug Rap und Gewalt wieder betrachtet werden, als gäbe es eine intime Verwandtschaft zwischen ihnen, schwingt diese Geschichte rassistischer Repression noch immer mit.