Zum Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu: Ohne Alternative
Der ICC ist eine Stütze der Weltordnung. Ihn angesichts des Haftbefehls gegen Benjamin Netanjahu infrage zu stellen, ist das falsche Signal.
Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) ist oft kritisiert worden: Er sei politisch voreingenommen, gehe nur gegen afrikanische Machthaber vor, sehe über Vergehen westlicher Staaten hinweg. Mit dem Haftbefehl gegen Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu wegen mutmasslicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gaza haben die Richter:innen in Den Haag letzte Woche das Gegenteil bewiesen. Doch ausgerechnet in Zeiten, in denen die internationale Ordnung durch antidemokratische Strömungen unter Beschuss gerät wie nie zuvor, ringen westliche Regierungen um einen Umgang mit der Entscheidung.
Rechtlich ist wenig zu prüfen: Die 124 Staaten, die das 2002 in Kraft getretene Römer Statut ratifiziert haben, sind an Entscheide des ICC gebunden. Wenn überhaupt, verdient noch am ehesten die Frage Beachtung, ob Israel das Verfahren nicht selbst hätte führen können. Immerhin wurden dort in der Vergangenheit auch hochrangige Politiker strafrechtlich verfolgt, etwa Ariel Scharon und Ehud Olmert. Doch die Richter:innen in Den Haag kamen offenbar zum Ergebnis, die israelische Justiz sei heute mit Blick auf Gaza nicht «willens und in der Lage», die Anschuldigungen zu verfolgen. Die Anträge auf Haftbefehle gegen Netanjahu und seinen Exverteidigungsminister Joav Gallant wurden im Mai gestellt; seither ist wenig passiert. Was nicht zuletzt daran liegt, dass Netanjahus Regierung alle Hebel in Bewegung setzt, um das Rechtssystem zu schwächen.
Letztlich liegt die juristische Abwägung über die Zuständigkeit beim Gerichtshof und nicht bei europäischen Politiker:innen. Eine internationale Justiz wäre obsolet, wenn man sie immer dann infrage stellt, wenn deren Entscheidungen nicht der eigenen Ansicht entsprechen.
Es überrascht deshalb kaum, dass die Argumente, die nun von rechten Politiker:innen auch in der Schweiz bemüht werden, vor allem politischer Natur sind: etwa dass die gleichzeitigen Haftbefehle gegen Netanjahu und den vermutlich bereits getöteten Hamas-Anführer Mohammed Deif diese gleichsetze. Dabei wird Netanjahu und Gallant nicht vorgeworfen, dass sie ihr Land gegen den Überfall der Hamas verteidigt haben. Dazu haben sie jedes Recht. Sie sind angeklagt, dieses Recht überschritten und «absichtlich und bewusst der Zivilbevölkerung im Gazastreifen für deren Überleben unverzichtbare Dinge wie Nahrung, Wasser und Medikamente […] vorenthalten zu haben».
Dass sich Netanjahu nun in eine Reihe mit einem der bekanntesten antisemitischen Justizskandale der Geschichte stellt und vom «modernen Dreyfus-Prozess» spricht, könnte die Strategie der israelischen Regierung kaum deutlicher machen: Kritik an Israels Kriegsführung als antisemitisch zu brandmarken. Doch der Haftbefehl richtet sich nicht gegen den Staat Israel an sich, nicht gegen Israelis per se und nicht gegen Jüdinnen und Juden. Er richtet sich gegen die Vertreter der rechtsextremsten Regierung, die das Land jemals hatte – und die seit Monaten einen Krieg fortsetzt, in dem auch viele Israelis schon lange keinen Sinn mehr sehen.
Wer dazu aufruft, diese Regierung zu schützen und dafür das nicht zuletzt auf den Lehren aus Holocaust und Zweitem Weltkrieg mühsam errichtete internationale Rechtssystem zu schwächen, muss sich die Frage stellen, wen er oder sie damit eigentlich schützt. Sich für Israels Sicherheit einzusetzen, bedeutet eben nicht, jeden Schritt der Regierung zu unterstützen – gerade deren Kurs hat das Land international in beispielloser Weise isoliert. Viele Israelis würden ihren wegen Korruption angeklagten «Crime Minister» am liebsten selbst ins Gefängnis stecken.
Wer den ICC infrage stellt, kippt Wasser auf die Mühlen derer, die die internationale Nachkriegsordnung längst als von Doppelstandards geprägt aufgegeben haben, ohne selbst eine Alternative zum Recht des Stärkeren anzubieten. Haftbefehle hin oder her: Das Existenzrecht und die Legitimität Israels stehen ausser Frage; was auf dem Spiel steht, ist vor dem Amtsantritt eines US-Präsidenten Donald Trump die Existenz und die Legitimität des ICC selbst. Es hängt von dessen Mitgliedstaaten ab, ob sie an der Idee, dass schwerste Völkerrechtsvergehen auch international verfolgt werden müssen, festhalten wollen oder nicht.