Israeldiskurs in Deutschland: Die Drecksarbeit der liberalen Mitte

Nr. 18 –

Im Namen der «Staatsräson» greift der deutsche Staat derzeit hart gegen kritische Stimmen durch. Die Diskussion um ­ Israel/Palästina spielt der AfD in die Hände. Der freie Journalist Hanno Hauenstein versucht, sich in dem Irrsinn zurechtzufinden.

Polizisten in Schutzmontur an der Demonstration nach dem Verbot des Palästina-Kongresses in Berlin
Die internationale Solidarität reicht nicht sehr weit: Demonstration nach dem Verbot des Palästina-Kongresses in Berlin.  Foto: K.M. Krause, Keystone

Seit über sechs Monaten erreichen mich fast täglich Nachrichten in Gruppenchats, in denen Menschen versuchen, eine Sprache dafür zu finden, was in Deutschland gerade passiert. Menschen aus Politik, Universität, Zivilgesellschaft und Kultur; Rechtsanwältinnen, Akademiker, Journalistinnen, mit palästinensischem, jüdischem oder (wie ich selbst) schlicht deutschem Hintergrund. Menschen, die Dinge beobachten, die sich kaum anders fassen lassen denn als autoritäre Wende in liberalen Gewändern.

In diesen Gruppen werden Texte geteilt, wird Rat gesucht, werden Entwicklungen besprochen. Etwa die sich türmenden Cancel-Fälle im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb seit dem 7. Oktober, die inzwischen schon derart üblich sind, dass das Sprechen darüber wie ein klischeehaftes Festhängen in einer repetitiven Zeitschleife wirkt. Es scheint fast egal zu sein, ob die Autorin Naomi Klein oder Journalisten wie Mehdi Hasan oder David Remnick mit Kopfschütteln und teils auch mit Hohn auf eine zynische Entwicklung aufmerksam machen, wenn im Namen der «Staatsräson» und «historischer Verantwortung» hart gegen jüdische oder schlicht kritische Stimmen durchgegriffen wird. Es scheint auch egal zu sein, wie viele Wissenschaftlerinnen und Künstler öffentlich verlautbaren, Deutschland zu boykottieren und zu bestreiken oder schlicht nicht mehr hierherkommen zu wollen. Ändern tut sich bislang – nichts.

Es wird in diesen Chats auch über das Auseinanderdriften der deutschen Berichterstattung über Gaza und etwa der britischen – und selbst der israelischen – diskutiert. Darüber, dass ein öffentliches Gespräch nach dem anderen über Israel/Palästina in Deutschland in völliger Abwesenheit palästinensischer Stimmen abläuft – ohne dass irgendwer sich gross daran stört. Oder darüber, dass den unbelegten israelischen Vorwürfen gegen das Uno-Hilfswerk UNRWA, die zu monatelanger Definanzierung durch Deutschland führten, in mehreren etablierten deutschen Medienhäusern mehr Platz eingeräumt wurde als dem Südafrikaverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof, an dessen Ende das Gericht Anhaltspunkte für eine Plausibilität von Völkermord durch Israel anerkannte. Oder dass eine Institution wie das Museum Folkwang die Ausstellung «Wir ist Zukunft», kuratiert vom haitianischen Autoren Anaïs Duplan, wegen eines Pro-Israel-Boykott-Posts cancelte, während dasselbe Museum bis heute kein Problem darin sieht, eine nach einem der Hauptangeklagten der Nürnberger Prozesse, Gustav Krupp, benannte Sammlung in blumigen Worten auf der eigenen Website zu bewerben.


Die Gruppenchats sind kleine Anker, an denen ich mich festhalte, um mich zu vergewissern, dass ich nicht ganz verrückt geworden bin. Dass andere ähnliche Gedanken umtreiben. Über die Verrohung eines Diskurses, der von Ahnungslosigkeit und Selbstbezüglichkeit getrieben zu sein scheint. Über das schamlose Stillstellen einer kritischen Gegenöffentlichkeit und das vielleicht noch schamlosere Verstärken von Stimmen, die als Israelliebe getarnten Menschenhass kaum mehr verstecken. Gedanken zu einem immer starrer wirkenden Politskript, das der AfD dieser Tage kräftig in die Hände spielt. Für sie ist die «Staatsräson» eine willkommene Gelegenheit, ihren eigenen Antisemitismus zu verstecken, Stimmung gegen Migration zu machen und einer inhaltlichen Erweiterung der deutschen Erinnerungskultur entgegenzuarbeiten – unter dem Deckmantel der unerschütterlichen Unterstützung Israels.

Die liberale Mitte, dieser Eindruck erhärtet sich gerade, macht somit die Drecksarbeit für Rechtsaussen – und zwar freiwillig. Sei es in Form eines selektiven Kampfes gegen «importierten Antisemitismus», sei es durch die Kopplung von Einbürgerungs-, Aufenthalts- und Zugehörigkeitsgarantien an ein Bekenntnis zur deutschen «Staatsräson». Oder in Form einer Agitation gegen «den Postkolonialismus». In der nichtakademischen öffentlichen Debatte ist «Postkolonialismus» längst eine Art Dog Whistle für Antisemitismus. Von der FAZ über die NZZ und selbst bis zur «taz» wird in einer Regelmässigkeit dagegen polemisiert, dass man meinen könnte, ein AfD-Antrag vom Sommer 2022 – «Förderung des Postkolonialismus umgehend einstellen» – sei längst die Norm.

Im Januar demonstrierten Abertausende gegen die rassistischen Deportationspläne der AfD – wohlgemerkt, ohne die bis dato bedingungslose deutsche Unterstützung des israelischen Vorgehens in Gaza mitzudenken, das bis heute knapp fünf Prozent der dortigen Gesamtbevölkerung getötet oder verletzt zurücklässt. Was auf diesen Demos auch passierte: Menschen, die Kufijas trugen, um neben ihrer Opposition gegen die AfD auch ihre Solidarität mit der Zivilbevölkerung in Gaza auszudrücken, wurden angeraunzt, teils sogar ausgeschlossen. Palästina, so wirkt es, ist ein Gradmesser, wie weit internationale Solidarität in Deutschland reicht. Die Antwort: offenbar nicht sehr weit.

Beispiele institutioneller und polizeilicher Eingriffe sprechen Bände: der vorschnelle Rückzug der Böll-Stiftung von der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Schriftsteller:in Masha Gessen; die Kündigung des Anthropologen Ghassan Hage durch die Max-Planck-Gesellschaft; der Entzug der Albertus-Magnus-Professur für die Philosophin Nancy Fraser; die Stürmung und Unterbindung des Palästina-Kongresses in Berlin und dubiose Einreise- und Zoomverbote für bekannte Teilnehmende; die gewaltsame Unterdrückung eines propalästinensischen Protestzeltlagers vor dem Reichstag. Fast immer steht der Vorwurf des Antisemitismus im Raum – und das, obwohl Jüdinnen und Juden in mehreren dieser Fälle selbst direkt von diesen Repressionen betroffen sind. Der Mangel an Gegendruck vonseiten der deutschen Presse und Zivilgesellschaft wirkt eklatant.


Ja, es gibt Antisemitismus, auch innerhalb der propalästinensischen Bewegung. Und dazu gibt es einen kaum zu leugnenden Trend, den ich selbst seit dem 7. Oktober bisweilen fassungslos auf Social Media beobachte: ein Sprechen, das Israelis, teils unabhängig von ihrer politischen Position, die kulturelle Identität oder kollektive Trauer abspricht. Ein Sprechen, das die Aktionen der Hamas vom 7. Oktober feiert und sich über deren zivile Opfer auf israelischer Seite lächerlich macht. Ein Sprechen, das zwischen Siedlern im Westjordanland und «Siedlern» in Tel Aviv nicht unterscheidet. Tendenzen, auf die viele jüdische Menschen – in Israel oder ausserhalb – verständlicherweise verängstigt reagieren. Das sollte man ernst nehmen, gerade in Deutschland.

Was sich allerdings auch beobachten lässt: Jüdische Angst wird immer stärker und immer offener für repressive Innenpolitik missbraucht. Der Rekurs auf Erinnerungskultur und historische Verantwortung dient dabei kaum mehr der Unterwanderung eines neuen deutschen Nationalgefühls, vielmehr als Schmiermittel zur Ausgrenzung und Disziplinierung von Minderheiten oder bestimmten politischen Sichtweisen.

Die Normalisierung von antipalästinensischem Rassismus in Medien und Politik steht indes in einem krassen Missverhältnis zur berechtigten Sorge vor zunehmendem Antisemitismus. Linke Stimmen – egal ob sie palästinensisch, jüdisch oder israelisch sind –, die beispielsweise auf die existierende Apartheid im Westjordanland aufmerksam machen, werden offen diffamiert. Yuval Abraham, einer der hervorstechendsten Journalist:innen, die Israel derzeit zu bieten hat und der infolge seiner Berlinale-Preisrede für den Dokumentarfilm «No Other Land» zusammen mit dem palästinensischen Koregisseur des Films, Basel Adra, durch das sprichwörtliche Dorf der deutschen Publizistik und Politik gejagt worden war, erlebte in der Folge Drohungen durch einen rechten Mob in seinem Heimatland.

Vor gut einer Woche war ich selbst vor Ort in Masafer Jatta im palästinensischen Westjordanland – der Heimat von Basel Adra –, wo «No Other Land» spielt. Ich besuchte Dörfer südlich von Nablus, die dieser Tage von Siedlergewalt betroffen sind. Mehrere Menschen wurden getötet, zahlreiche Häuser niedergebrannt, darunter auch das Gemeindezentrum von Qusra, das 2016 mit Unterstützung der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit errichtet worden war. Der Bürgermeister der Gemeinde deutete auf eine anliegende Siedlung namens Shilo, aus der die Siedler, die diesen Schaden angerichtet hatten, gekommen seien.

Über Kleinanzeigen der Firma Yad2, eines Tochterunternehmens von Axel Springer, kann man in Shilo derzeit recht unkompliziert ein Haus erwerben. Sprich: Axel Springer profitiert auf Grundlage des exakt gleichen Apartheidsystems, das Abraham und Adra in ihrem Film sowie auf der Berlinale-Bühne selbst beschrieben und kritisierten. Parallel befeuert Springer mit hetzerischen Artikeln in Zeitungen wie «Welt» und «Bild» einen Diskurs, der linke Positionen wie die von Adra und Abraham als antisemitisch brandmarkt und kritische Stimmen präventiv zum Schweigen bringt.

Manchmal frage ich mich, ob die kritische Mikroöffentlichkeit der Gruppenchats inzwischen nicht eigentlich eine Ventilfunktion einnimmt. Ob es nicht vielleicht sinnvoller wäre, das interne Sprechen in ein öffentliches zu übersetzen. Die Orte dafür – in Redaktionen, Universitäten und Kunstinstitutionen – werden in Deutschland dieser Tage allerdings immer kleiner und enger.