Flucht aus dem Iran: «Du weisst nicht, ob du diesen Raum lebend verlassen wirst»
Die Verlegerin Sahar Tavakoli geriet im Iran ins Visier des Regimes – und entschied sich zur Flucht in die Schweiz. Seit einem Jahr wartet sie nun auf einen Asylentscheid.

«Bei unserem letzten Treffen hast du eine andere Sahar gesehen: eine Sahar voller Hoffnung, voller Projekte und Träume. Manchmal erkenne ich mich selber nicht mehr: Mein neues Ich ist so weit weg von dem, was ich bin – oder was ich war.»
Die iranische Übersetzerin und Verlegerin Sahar Tavakoli sitzt in Schwarz gekleidet an ihrem Tisch in der Asylunterkunft im Aargau. Fünf Quadratmeter klein ist das Zimmer, das sie hier mit ihrem Mann teilt, dem Dichter und Übersetzer Faryad Shiri. Das ehemalige Mädchenheim liegt rund dreissig Gehminuten vom nächsten Bahnhof entfernt, abgelegen zwischen Aare und Eisenbahnlinie. Bis zu hundert Asylsuchende leben hier, seit neun Monaten auch Tavakoli und Shiri – und sie warten: auf einen positiven Entscheid über ihren Asylantrag – und darauf, ein selbstbestimmtes Leben in Sicherheit zu führen.
Die Angst verloren
Hinter Sahar Tavakoli steht ein eisernes Hochbett, auf dem Tisch liegt ein Heft, in das sie für das Gespräch Sätze auf Farsi und Englisch notiert hat. Während des Gesprächs schaut sie immer wieder konzentriert im Heft nach, blättert vor oder zurück. Ab und zu dringen Kinderstimmen von nebenan ins Zimmer, die Wände hier sind dünn.
Auf dem Fenstersims stehen Bücher – Tavakolis grosse Leidenschaft. Vor zwanzig Jahren hat sie mit ihrem Mann in Teheran den Dastan-Verlag gegründet. Über 400 Bücher hat der Verlag seither publiziert, darunter viele eigene Übersetzungen: Sie übersetzt aus dem Englischen ins Farsi, ihr Mann aus dem Kurdischen. Seit Jahren reiste Tavakoli immer wieder in die Schweiz: 2022 wurde sie vom Robert-Walser-Institut als Verlegerin von Walsers «Spaziergang» nach Bern eingeladen, und sie ist regelmässig Gast im Übersetzerhaus Looren im Zürcher Oberland. Im Februar 2019 übersetzte sie dort Gedichte des US-Lyrikers Jerome Rothenberg und des Schweizers Daniele Pantano. Damals lernten wir uns bei einem Interview kennen (siehe WOZ Nr. 6/19). Übersetzen sei für sie eine Mission, sagte sie da und erwähnte auch kurz die iranische Zensurbehörde, doch wählte sie ihre Worte mit Bedacht, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Sie sei ängstlich gewesen im Gespräch damals, erinnert sie sich heute, diese Angst habe sie verloren.
Als im Herbst 2022 im Iran die «Frau, Leben, Freiheit»-Revolution ausbrach, fragte ich bei ihr nach, wie es ihr gehe. Sie schrieb zurück: «Diese junge Generation ist so mutig. Lass uns die Daumen drücken für eine hellere Zukunft.» Doch es kam bekanntlich anders, und die gewaltsame Unterdrückung gegen Frauen wurde noch verschärft. Laut einem aktuellen Bericht von Amnesty International führt die iranische Behörde einen «eigentlichen Krieg gegen Frauen und Mädchen».
Frausein als Verbrechen
«Im Iran wird das Frausein an sich schon als kriminell angesehen», sagt Tavakoli und schüttelt den Kopf. Es habe sie über all die Jahre so viel Kraft gekostet, als Frau in dieser Gesellschaft ihren kulturellen Aktivitäten nachzugehen und dafür respektiert zu werden. Sie habe bei ihrer Arbeit jedoch stets versucht, nicht in den Fokus der Regierung zu geraten. So publizierte sie in ihrem Verlag nur Bücher, die eine offizielle Erlaubnis der Zensurbehörde hatten, und beim Übersetzen zensierte sie sich gegen ihre eigene Überzeugung selber: «Wenn du weisst, dass das Buch zensiert werden könnte, hast du selber eine Schere im Kopf. Es ist wie eine Krankheit, gegen die es keine Medizin gibt.»
Trotz all dieser Vorsichtsmassnahmen wurde sie im November 2023, genau an ihrem 44. Geburtstag, von der gefürchteten Islamischen Revolutionsgarde, auch Sepah genannt, zur Befragung vorgeladen. Die Angst war riesig: «Du sitzt da und weisst nicht, was passieren wird. Du weisst nicht, ob du diesen Raum lebend verlassen wirst.» Die Sepah hatte ein dickes Dossier über Tavakoli angelegt: Alle Artikel, die über sie geschrieben worden waren, all ihre kulturellen Aktivitäten und Projekte waren erfasst. «Sie wussten alles!» Und die Sepah interessiere sich nicht einmal für die Genehmigungen der Zensurbehörde: «Obwohl all meine Bücher legal publiziert worden waren, warf man mir vor, eine politisch Oppositionelle zu sein.» Die erste Befragung dauerte sechs Stunden, es folgte eine weitere. Auch ihr Mann Faryad Shiri wurde vorgeladen, der als iranisch-kurdischer Dichter und Übersetzer schon länger im Fokus der Behörde gewesen und immer wieder mit ethnischer und religiöser Diskriminierung konfrontiert worden war.
Nach Tavakolis Verhör sagte man ihr aufgrund ihres Dossiers: «Wenn du nicht erschossen wirst, kommst du für mindestens zehn Jahre ins Gefängnis.» Tavakoli stockt kurz, dann sagt sie: «Das ist der grosse Albtraum» – und zum ersten Mal während unseres Gesprächs beginnt sie zu weinen.
Als sie sich wieder gefasst hat, erzählt sie ruhig weiter: «Wir entschieden uns zu fliehen.» Sie sagten niemandem Bescheid, und sie hatten auch grosses Glück, wie Tavakoli im Gespräch immer wieder betont. Da sie beide ein Visum hatten, konnten sie regulär einen Flug buchen – und nur 24 Stunden nach ihrer zweiten Befragung sass Tavakoli mit Shiri im Flugzeug in die Schweiz. «Wir haben unser ganzes Leben zurückgelassen, unsere Freunde, unsere Familie, unsere Wohnung, 3000 Bücher …»
Eine der Ersten, die Sahar Tavakoli und Faryad Shiri nach ihrer Ankunft in der Schweiz traf, war Monica Mutti. Die Mitarbeiterin des Übersetzerhauses Looren und Tavakoli sind schon seit Jahren befreundet, Mutti wusste auch von den Verhören und war sehr besorgt. Die Erleichterung sei gross gewesen, als Tavakoli und Shiri in der Schweiz ankamen, erinnert sich Mutti am Telefon. «Das muss alles wahnsinnig nervenaufreibend gewesen sein. Sahar konnte bei ihrer Ankunft kaum mehr reden, sie war so aufgelöst.» In den ersten Tagen hätten sie alle Angst gehabt, dass sie abgehört und ihre Handys geortet würden.
Ein pinker Schwamm im Koffer
Als Tavakoli in der Schweiz ihren eilends gepackten Koffer öffnete, fand sie zuoberst einen pinken Schwamm. «Es war lustig und gleichzeitig so deprimierend», sagt sie. «Ich dachte: Arme Sahar, von diesem wunderschönen Leben, das du dir in 25 Jahren aufgebaut hast, hast du ausgerechnet einen pinken Schwamm mitgebracht.» Sie lacht leise und fügt an: «Aber vielleicht hat es eine tiefere Bedeutung? Denn ein Schwamm kann ja bekanntlich unglaublich viel Druck standhalten …»
Das müssen auch sie und Shiri. «Wir haben den ersten Teil geschafft, wir konnten fliehen, doch jetzt sitzen wir wieder fest», sagt sie. «Du kommst mit einem Trauma hierher, und hier beginnt ein neues Trauma.» Traumatisch war die Befragung, die sie als Asylsuchende über sich ergehen lassen musste. Nach dem mehrstündigen Interview brach sie zusammen und musste eine Nacht im Spital verbringen. «Natürlich war der Kontext der Befragung hier ganz anders als im Iran. Aber das Hirn kann nicht unterscheiden. Niemand, der je eine solche Befragung durchgemacht hat, kann das vergessen.» «Befragung» scheine nur ein Wort zu sein, doch: «Das Wort beinhaltet Angst, Hoffnungslosigkeit und Erniedrigung. Und das alles schreibt sich unauslöschlich in deinen Körper und in deinen Geist ein.»

Als traumatisch erweist sich aber auch der Zustand im Wartemodus, in einer Unterkunft ohne Privatsphäre, abgeschnitten von jeglichem sozialen Leben. «Im Moment versuchen wir einfach zu überleben. Wir kämpfen mit unserer Hoffnungslosigkeit, Zerbrechlichkeit und Unsicherheit. Wenn du keinen stabilen Status innerhalb einer Gemeinschaft hast, bis du so verletzlich. Für mich als geflüchtete Frau vertieft Intersektionalität die Exilerfahrung.»
Tavakoli versteht nicht, warum die Schweizer Behörde für den Entscheid so lange braucht – seit ihrer ersten Befragung ist bereits ein Jahr vergangen. Die Fakten lägen alle auf dem Tisch, und die Situation sei klar: «Für uns gibt es keinen Weg zurück.» Bis der Entscheid auf dem Tisch liegt, versucht sie, sich nützlich zu machen: Sie begleitet andere Bewohner:innen als Übersetzerin zu Arztterminen. Wenn es die finanzielle Situation erlaubt – pro Person müssen sie mit 62 Franken die Woche auskommen –, fährt sie nach Baden oder Aarau in die Bibliothek, und sie lernt Deutsch. Auch versucht sie zu arbeiten: Sie konnte die Übersetzung von «The Little Red Chairs» fertigstellen, einem Roman der feministischen irischen Autorin Edna O’Brien, die diesen Sommer verstorben ist. Es sei eine neue Erfahrung, ein Buch ohne Zensur im Kopf zu übersetzen: «Ich musste nicht dauernd Wörter weglassen. Diese Freiheit der Wörter zu fühlen, das war eine ganz neue Erfahrung.» Das Buch wird dieser Tage in einem Verlag ausserhalb des Iran publiziert.
Das Feuer brennen lassen
«Wir arbeiten im Turnus», sagt sie und zeigt auf den kleinen Tisch, an dem kaum zwei Menschen gemeinsam arbeiten können: «Faryad schreibt, während ich schlafe, und umgekehrt.» Auf die Frage, ob sie denn überhaupt schlafen könne, nimmt sie eine kleine Dose vom Tisch und schüttelt sie: «Ja, dank dieser Pillen hier.»
Sie blickt aus dem Fenster auf die Aare, die idyllisch vor der Unterkunft vorbeifliesst. «Das Erste, was du verlierst, wenn du dein Land verlässt, ist die Sprache. Zwar nimmst du sie mit, aber im neuen Umfeld nützt dir die Muttersprache nichts mehr – und damit verlierst du auch deine Identität.» Für jemanden wie sie, die sich mit Literatur und Sprache beschäftige, sei das ein grosser Schmerz.
Sahar Tavakoli sagt, sie hoffe fest, auch in deutscher Sprache eine Poetin bleiben zu können und möglichst bald die Energie für neue Projekte zu finden. Unter anderem möchte sie endlich Bücher ganz ohne Zensur publizieren: «Mein einziges Feuer ist Literatur. Das ist, weshalb wir heute reden: Nach einem Jahr des Schweigens habe ich mir gesagt: Ich muss wieder Worte finden. Ich muss das Feuer brennen lassen.»