Asylpolitik: Dann sprang er

Nr. 37 –

Er flüchtete aus dem kurdischen Teil des Iran und war überzeugt, dass die Schweiz ihm die Sicherheit geben würde, die er stets vermisst hatte. Massud Ghaderi wurde enttäuscht. Und ging aus dem Leben.

Er hatte Pläne gemacht und schnell Deutsch gelernt, er wollte Buschauffeur werden. Doch dann sagten die Asylbehörden, Massud Ghaderi würde lügen.

Am Samstag, 22.  August 2020, kurz nach 19 Uhr, springt Massud Ghaderi am Bahnhof Ziegelbrücke vor einen einfahrenden Zug, kurz darauf stirbt er.

Noch am Nachmittag, erzählte Darya Lotfi mit ihrer rauen, warmen Stimme ein Jahr später, war er mit Kollegen aus dem Asylzentrum unterwegs gewesen, ein Bier hatte er getrunken, oder zwei; aber betrunken sei er nicht gewesen, nein.

Eine Kurzschlusshandlung, sagte Lotfi, oder vielleicht auch nicht.

Massud Ghaderi, wohnhaft gewesen in der Asylunterkunft in Ennenda, Kanton Glarus, aus dem kurdischen Teil des Iran stammend, aus Bukan, einer Provinzstadt ganz im Nordwesten, in die Schweiz eingereist im September 2018. Sein Asylantrag war im Eilverfahren abgelehnt worden, der Rekurs vor Bundesverwaltungsgericht noch hängig.

Sein Suizid machte die Diaspora der iranischen KurdInnen in ganz Europa betroffen, die Medien berichteten, und kurdische AktivistInnen in London, in der Schweiz, im Iran sahen in seinem Suizid ein Zeichen dafür, dass die Schweizer Behörden die Fluchtgründe von Menschen aus dem Iran schlicht übergehen, dass es vielen so geht wie Ghaderi – sie haben panische Angst vor einer Ausschaffung in den Iran, wo Haft, Verfolgung und Folter drohten.

Lotfi hat beruflich mit Sprachen zu tun, ist gebürtige Iranerin, sie möchte ihren richtigen Namen aber nicht in der Zeitung sehen. Sie sass mir in ihrer Wohnung gegenüber, der Blick durchs Fenster ging auf grüne Wiesen, hohes Gebirge, voralpine Landschaft. Auf dem Tisch lagen Fotos von Ghaderi, Fotokopien, und Lotfi stand immer wieder auf, um in den vielen Aktenstücken nach weiteren Papieren zu suchen, nach Belegen für das, was geschah und was sie bis heute nicht zu fassen bekommt.

Sie lernte Ghaderi vor seiner Erstbefragung beim Staatssekretariat für Migration kennen, seine Schwester hatte Lotfi gebeten, Ghaderi ein wenig zu erklären, worauf es bei dieser Befragung ankommt. Dass man alles erzählen muss, alles, und dass man keine Fehler machen darf, nicht bei den Daten, nicht bei den Orten, und keine Widersprüche in den Erzählungen. Dass er detailreich erklären muss, was es heisst, im Iran ein Kurde zu sein, dass er erzählen soll von den Haftbefehlen wegen «Beleidigung des iranischen Staates», wegen «Bruch der Ehe».

«Aber dann?», fragte ich Lotfi.

«Dann ist er nach Bern gegangen und hat eben nur einen Teil der Geschichte erzählt, nicht das Ganze.»

«Warum?»

«Massud war sensibel, verletzlich, aber auch sehr stolz. Und er ging davon aus, dass man ihn in der Schweiz mit Respekt behandeln würde, nicht so wie im Iran, als er ins Gefängnis geworfen wurde, ausgepeitscht, weil in seinem Auto drei Dosen Bier gefunden worden waren. Er dachte, hier in der Schweiz würde man seine Würde respektieren, und so glaubte er, es reiche, wenn er einige Geschichten seiner Verfolgung schilderte, dass es nicht alle brauchte.»

«Dann kam der negative Entscheid.»

«Es war eindeutig, dass Massud eine depressive, eine traurige Seite hatte. Aber an dem Tag, als der negative Entscheid kam, ist er zusammengebrochen, so richtig. Er hat mich angerufen, hat gesagt, komm sofort, bitte. Er schickte mir ein Foto der ersten Seite des Entscheids. Und ich nichts wie los, mit dem Auto nach Ziegelbrücke, da traf ich ihn an, und er redete nur noch davon, dass er sich umbringen will.»

Lotfi erkennt, als sie Ghaderi an diesem Tag am Bahnhof Ziegelbrücke antrifft, dass sie hier eine besondere Verantwortung hat, dass sie um sein Leben kämpfen muss.

Um Ghaderi, in dem sich die Sätze aus dem erstinstanzlichen Entscheid festgesetzt haben:

«Es ist davon auszugehen, dass die geltend gemachten Verfolgungsmassnahmen frei erfundene Konstrukte sind», «Ausserdem lassen sich Dokumente aus dem Iran vergleichsweise leicht fälschen bzw. können käuflich erworben werden» und «Es bleibt festzuhalten, dass Sie zwar angeblich einen Haftbefehl und Droh-SMS bekommen haben, aber diese Beweismittel nicht beibringen können»; und was seine psychische Labilität angehe, bestehe immer die Möglichkeit, «dieses Verhalten nachzuahmen und so zu einem Aufenthaltsrecht in der Schweiz zu gelangen».

Folglich sei «der Vollzug der Wegweisung in den Iran als zumutbar zu erachten».


Das Durchgangszentrum für Asylsuchende, in dem Ghaderi zuletzt gelebt hat, ist ein grosses, einladendes Haus auf einem kleinen Hügel am Rand von Ennenda, sozusagen die Agglomeration von Glarus. Rundherum stotzige Felswände, inneralpine Enge, in der Nachbarschaft Gewerbe, Einfamilienhäuser, fein geputzte, menschenleere Trottoirs. Aber vor dem grossen Haus plötzlich Leben, als ich ankam, sassen unter der Linde im Garten Frauen und Männer, die Deutschvokabeln büffelten, in der Küche schepperten die Töpfe, von irgendwoher helles Lachen.

Christine Saredi, kurzes, leicht angegrautes Haar und markante Brille, hat gezögert, nochmals über den Fall Ghaderi zu sprechen; zu sehr hat der Suizid sie, die Asyl- und Flüchtlingskoordinatorin des Kantons Glarus, und ihr Team mitgenommen, hat schmerzliche Spuren hinterlassen.

Nun aber erzählte sie, vielleicht auch, weil sie klarstellen wollte, dass der Umgang mit Menschen auf der Flucht hier im Glarnerland ein anderer sei als anderswo, wie sie einleitend betont: Man habe ein Konzept entwickelt, um Menschen im Asylverfahren möglichst früh in den Arbeitsmarkt zu integrieren, die Firmen im Tal seien froh darum. Und man verfüge über gute, ansprechende Unterkünfte, keine Bruchbuden. Das sogenannte Glarner Integrationsmodell sei erfolgreich und werde in anderen Kantonen nachgeahmt, sagte mir Saredi, und sie erwähnte auch die verschiedenen Treffpunkte im Kanton, bei denen sich Menschen im Asylverfahren und die Einheimischen begegnen könnten.

In diesem Umfeld lernt Ghaderi schnell Deutsch, wird Hauswart im Durchgangszentrum, übernimmt Verantwortung für die Technik, beginnt als Lieferwagenfahrer beim hausinternen Dienst. Und in seiner Freizeit findet er Anschluss in der Ringerriege beim Turnverein Tuggen, geht regelmässig trainieren, kann seine Technik weiterentwickeln. Und schmiedet Pläne, spricht davon, dass er in der Schweiz eine Ausbildung zum Buschauffeur machen will, das ist sein Traum.

Bis zum Entscheid.

Saredi nimmt die Veränderung wahr, sie spürt, dass da etwas zerbrochen ist, nimmt Ghaderi beiseite zum Gespräch. Versucht, ihm klarzumachen, dass es Lösungen gibt, den Rechtsweg zunächst, dass er eine Ausschaffung nicht zu fürchten habe.

«Aber das hat nichts genützt?»

«Er war nach dem erstinstanzlichen Entscheid sehr angeschlagen, keine Frage. Wir haben ihn dann zum Hausarzt geschickt, wir haben für ihn eine Psychotherapie organisiert. Ich habe ihm gesagt, hör zu, Massud, du musst nicht zurück.»

«Hat er sich verraten gefühlt?»

«Das kann ich nicht beurteilen, ich sehe die Asylentscheide ja nicht. Aber es gab sicher etwas, das hat das Fass zum Überlaufen gebracht.»

«Und dann?»

«Ehrlich gesagt habe ich nicht damit gerechnet, dass er sich etwas antut, er war ja in Behandlung. Wir wussten zwar, und das war sicher ein Alarmzeichen, dass er alle Beziehungen nach und nach abgebrochen hat, auch zu Darya, auch zu mir, er war irgendwann mal nicht mehr erreichbar. Aber wir dachten nicht, dass er so weit gehen würde.»

Auch Marco Lo Presti, Leiter der Beschäftigungsprogramme, nicht.

Lo Presti, der mit Ghaderi mit dem Lieferwagen unterwegs ist, Möbeltransporte von einer Unterkunft zur anderen macht, Umzüge, Räumungen. Ghaderi stemmt ganze Schränke allein, ganze Tische, ein Kraftpaket. Er sitzt auch am Steuer des Lieferwagens, freut sich, dass er fahren kann, oft schweigsam, manchmal erzählt er auch. Berichtet von seiner Zeit im Iran, von seiner Flucht und davon, dass dieser negative Asylentscheid ein riesiger Frust sei, dass er das Gefühl habe, nicht wirklich gebraucht zu werden in diesem Land Schweiz.

Er ist einer, vor dem alle Respekt haben im Tal, den alle mögen, immer zuverlässig, er kann es mit allen. Nie kommt ein lautes Wort von ihm, er hat eine eigene, irgendwie sanfte Autorität. Ghaderi, der auch bei einem Streit im Asylzentrum nie körperlich eingreift, trotz seiner Muskelpakete, der sagt, er sei nicht in die Schweiz gekommen, um hier Methoden wie im Iran anzuwenden.

Und ja: Ein talentierter Ringer sei er gewesen, sagte mir Hansruedi Ulrich, Vorstandsmitglied bei der Ringerriege STV Tuggen, er habe grosses Potenzial gehabt. Nur noch ein paar Monate, und er hätte Mitglied werden können bei Swiss Wrestling, hätte Wettkämpfe bestreiten können, im Kader.

Doch dann der Entscheid.


Damals, am Bahnhof Ziegelbrücke, erzählte Lotfi, als Ghaderi davonläuft, quer über die Strasse, einfach davon, als er sagt, er bringe sich um, telefoniert Lotfi hierhin, dorthin, kontaktiert die Asylbehörde in Glarus, telefoniert sich durch, kriegt schliesslich einen Mitarbeiter ans Telefon. Der setzt sich ins Auto und findet Ghaderi, kann ihn überreden, mit in die Psychiatrie zu fahren. Dort hält die Assistenzärztin, die ihn untersucht, fest, Ghaderi habe «heute einen negativen Asylentscheid erhalten und ist akut suizidal». Seit einem Jahr hätten «die Suizidgedanken zugenommen, und er habe schon über verschiedene konkrete Methoden nachgedacht, aber nie einen Versuch gemacht. Sich jedoch nie dazu entschieden, weil er etwas Hoffnung habe, nun habe er keine Hoffnung mehr und kann nicht garantieren, dass er sich nicht das Leben nimmt.»

Man verbringt ihn in die Klinik Waldhaus in Chur.

Und dort wird tags darauf die Diagnose erstellt, der Patient könne sich «im Gespräch glaubhaft von Suizidalität distanzieren», er habe «einfach Angst, dass er zurück in sein Heimatland geschickt wird».

Lo Presti holt ihn in Chur ab.

Ghaderi sagt, er gebe sich vier Wochen. Wenn sich bis in vier Wochen nichts an seiner Situation ändere, werde er es tun.

Lotfi weiss, dass sich Ghaderi gut verstellen kann, er kann schauspielern, wenn es darauf ankommt. Sie kümmert sich um ihn, schaut, dass sie ihn am Wochenende regelmässig sieht, nimmt ihn bei sich auf.

Achtet darauf, dass er sich wieder bei seiner Schwester meldet.

Bei seiner Schwester, die mir via Zoom ruhig und klar schilderte, dass die KurdInnen im Iran diskriminiert und verfolgt werden, sie erzählt von Folter, willkürlichen Verhaftungen und Erschiessungen, von der Hinrichtung von Intellektuellen und AktivistInnen, und dass das endlich anerkannt werden müsse. Und diese Diskriminierungen habe Ghaderi, der schon als Junge feinfühlig gewesen sei, ein nachdenklicher, stiller Mensch, aufmerksam wahrgenommen. Erschwerend sei gewesen, erzählte sie, dass der Vater sich an die Regierung verkauft habe, für den Geheimdienst gearbeitet habe, ein überaus strenger, autoritärer Mensch, während die Mutter, von Beruf Lehrerin, den Kindern alle Liebe gegeben habe. Ghaderi sei im dauernden Streit mit seinem Vater gewesen, und vieles, was sich später ereignet habe, führe sie auf diesen Konflikt zurück, sagte seine Schwester. Dass er sein Studium abgebrochen habe, trotz bester Noten, dass seine Ehe in die Brüche gegangen sei, all diese Dinge.

«Dinge, über die er bei seiner ersten Befragung nichts erzählt hat?»

«Ja, aus Stolz, weil Massud auch ein stolzer Mensch war.»

«Die Asylbehörden haben das nicht verstanden.»

«Nein, haben sie nicht. Sie haben nicht verstanden, dass er bestimmte Ereignisse nicht erzählen wollte, aus persönlichen Gründen. Sie haben ihm aus Detailfragen einen Strick gedreht, nur weil er ehrlich genug war, zu sagen, er könne sich nicht genau erinnern, an Daten, an Orte. Sie müssen wissen, dass Massud ein grundehrlicher Mensch war.»

«Und er hat erwartet, dass das auch anerkannt wird.»

«Ja, aber was soll man tun, wenn ein System nicht halten kann, was es verspricht?»

Vier Wochen, er hält daran fest.

Immerhin erreicht Lotfi, dass er gegen den erstinstanzlichen Entscheid Beschwerde erhebt, beim Bundesverwaltungsgericht. Dass er im neuen Verfahren die ganze Geschichte erzählt, nicht nur Fragmente, nicht nur das, was sein Stolz zulässt, sein Eigensinn.


Alles, was ihm widerfahren war, steht dann in der Beschwerdeschrift, sorgfältig zusammengestellt von der Zürcher Beratungsstelle für Asylsuchende, seine Geschichte:

Die überstürzte, sehr frühe Heirat mit knapp über zwanzig. Er konnte das Brautgeld nicht bezahlen, und nachdem die Ehe in die Brüche gegangen war, hat der Bruder seiner Frau begonnen, das Brautgeld einzufordern. Nicht für die Familie, sondern für eine Miliz, für die er tätig war. Der Bruder seiner Frau erreichte, dass gegen Ghaderi ein Haftbefehl wegen «Bruchs der Ehe» ausgesprochen wurde. Sein Vater, ein führendes Kadermitglied des iranischen Geheimdienstes, liess ihn mit seinen Problemen allein, und Ghaderi, auf sich allein gestellt, überfordert, konnte jederzeit festgenommen werden. Es begann mit der Verurteilung wegen Alkoholbesitz, drei Monate im Gefängnis, er wurde drangsaliert, gefoltert, und als er herauskam, gingen die Schikanen weiter. Er lebte monatelang in seinem Auto, immer unterwegs, Ghaderi musste seinen Job in einem Geschäft für Haushaltsgeräte aufgeben, er wurde verfolgt. Ein Auto stellte sich ihm in den Weg, mitten in der Nacht, er konnte gerade noch entkommen, immer wieder ein anderes tauchte auf, das ihn stundenlang verfolgte. Dann ein weiterer Haftbefehl wegen «Nichtbezahlung des Brautpreises», ein anderer wegen «Beendigung der Ehe», noch einer wegen «Verleumdung, Beleidigung und Verbreitung von Lügen sowie Beleidigung der Heiligkeit der Islamischen Republik Iran und der schiitischen Religion». Er entschied sich zur Flucht.

Im Beschwerdeverfahren bringt Ghaderis Anwalt alle Dokumente bei, beglaubigte Kopien und Übersetzungen der Haftbefehle, der Gerichtsurteile. Dazu weitere Unterlagen über die Unterdrückung der KurdInnen im Iran, und warum Ghaderi wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit als Kurde einer ständigen, schweren und systematischen Erschwerung der Lebensumstände ausgesetzt war, alles minutiös aufgeführt. Auch die detaillierten Umstände der Flucht, mit dem Auto zur Grenze, im Lastwagen versteckt quer durch die Türkei, dann hinter Paletten verborgen auf einem Sattelschlepper bis in die Schweiz.

Und der Anwalt weist im Beschwerdeverfahren auf einen Umstand hin, den Ghaderi in der ersten Befragung nicht vorgebracht hatte, weil er annahm, das sei seine Privatsache: seine Konversion zum Christentum. Der Beschwerdeschrift beigelegt ein Taufschein der Freien Evangelischen Kirche Ennenda, dazu die Begründung, warum Ghaderi als Christ bei einer allfälligen Ausschaffung in den Iran nun besonders gefährdet wäre.

Ghaderi, der zwischenzeitlich eine Therapie angefangen hat, tut alles, um den Anforderungen der Asylbehörden nachzukommen. Aus seiner Sicht, so formuliert es Lotfi, ist nun alles offen und ehrlich dargelegt.

Aber es kommt anders.


Das Staatssekretariat für Migration argwöhnt in seiner Vernehmlassung zur Beschwerde zunächst, es sei nicht nachvollziehbar, «warum der Beschwerdeführer diese Dokumente erst nach dem Erlass des Entscheides einreichte», und mutmasst, es komme der Verdacht auf, «dass die Dokumente im Zeitpunkt des Entscheides noch gar nicht existierten und erst auf Beschwerdeebene hergestellt wurden», also gefälscht seien. Zudem sei es, was die Konversion zum Christentum angehe, «schleierhaft, warum der Beschwerdeführer dieses Vorbringen erst jetzt geltend macht, zumal die Anhörung erst nach dessen Konversion stattfand», woraus das Staatssekretariat schlussfolgert, dieses Vorbringen diene allein dazu, «den Wegweisungsvollzug zu verhindern», und überhaupt sei unklar, inwiefern «die Zuwendung zum Christentum aus innerer Überzeugung und nachhaltig erfolgt» sei.

Lotfi in ihrer Wohnung, draussen der Blick auf den Alpenkamm, sie musste tief Luft holen.

«Weisst du, er hat sein Land so sehr geliebt, es fiel ihm so schwer, aus dem Iran zu flüchten, und dann kommt er hier an und es heisst, er sei unglaubwürdig.»

«Trotz der beigebrachten Dokumente.»

«Sie haben diese als Fälschungen abgetan, ja. Obwohl die Originale das Wasserzeichen haben, den Stempel des Gerichts, die Unterschriften. Schau es dir selbst an, das kann nicht gefälscht werden, und wir haben es ja beglaubigen lassen, mehr konnten wir nicht tun. Und die schreiben einfach, das seien Fälschungen. Das hat ihn fertiggemacht.»

«Weil er nochmals Hoffnung geschöpft hat.»

«Ja, irgendwie schon. Weil ich ihn zur Beratungsstelle nach Zürich gebracht habe, weil ich gesagt habe, schau, wenn die bereit sind, deinen Fall weiterzuziehen, dann hast du eine Chance. Die Dokumente liegen vor, die belegen alles, wirklich.»

Ghaderi wartet auf ein positives Zeichen, stattdessen ein Aktenstück nach dem anderen, auf dem «unglaubwürdig» steht.

Lotfi muss ihn jetzt drängen, damit sie ihn sehen kann, an den Wochenenden, tagelang meldet er sich nicht, kapselt sich ein. Er verpasst seine Termine bei der Therapie, und wenn Lotfi ihn erreicht, spricht er davon, dass er nichts mehr geniessen könne, nicht das Essen, nicht die Luft, nicht die Menschen, gar nichts. Und geht doch seiner Arbeit nach, mit Lo Presti im Lieferwagen, lässt sich dort kaum etwas anmerken, kann seine tiefe Traurigkeit immer wieder überspielen, am Steuer des Lieferwagens.


Am Freitag geht er ein letztes Mal zur Therapie und sagt, er brauche keine Behandlung mehr, er möchte aufhören.

Der Freitag ist Lotfis Geburtstag, er meldet sich nicht.

Dann der Samstag, wenige Tage nach den gesetzten vier Wochen.

Was hat den Ausschlag gegeben?

War es der Hinweis, der in iranischen Exilkreisen die Runde macht und bis zu ihm durchdringt: dass das Staatssekretariat für Migration die Angaben und Beweismittel von Geflüchteten aus dem Iran durch einen «Vertrauensanwalt» in Teheran überprüfen lässt? Und zwar durch Said Hassan Amirshahi, Inhaber einer Anwaltskanzlei, spezialisiert unter anderem auf die «Verifizierung, Überprüfung der Rechtmässigkeit, Zertifizierung und Authentifizierung von Dokumenten, Fotos und Unterschriften», Amirshahi, der regelmässig für die Regierung des Iran arbeiten soll, unter anderem für ihre Vertretung in Genf, der offiziell als «Vertrauensanwalt» Österreichs in Teheran aufgeführt wird.

Er springt.

Lotfi erfährt erst am Montagnachmittag von seinem Suizid, der damalige Leiter des Zentrums in Ennenda hält es nicht für nötig, sie und Ghaderis Schwester gleich zu kontaktieren.

Lotfi bricht zusammen, sie glaubt, ihr Herz stehe gleich still, in der Nacht ruft sie den Notfall, ihr Kreislauf spielt verrückt. Sie braucht mehr als ein Jahr, um sich ein wenig zu erholen, um wieder zu Kräften zu kommen.

Bei der Beerdigung auf dem Kirchhof in Ennenda kommen Bekannte und Freunde aus dem Tal, kurdische Freunde, die MitbewohnerInnen aus dem Asylzentrum, die Ringerriege Tuggen hat eine Delegation geschickt.

Eine schlichte, bewegende Feier, die einzig gestört wird durch eine unbekannte Frau, die vorgibt, sie handle im Interesse von Ghaderis Vater in Bukan, sie fordere seinen Leichnam, um ihn im Iran zu begraben; Saredi wird auf sie aufmerksam und geleitet sie weg, macht ihr klar, dass Ghaderis Wunsch, in der Schweiz begraben zu sein, befolgt werde.

Am 11. September findet vor dem Sitz des Staatssekretariats für Migration in Bern eine Gedenkdemonstration statt. Die Anwesenden, Kurdinnen und Kurden aus dem Iran und befreundete Menschen aus der Schweiz, wollen vom Staatssekretariat unter anderem wissen, was unternommen werde, «um Selbstmorde von Menschen mit einem negativen Asylentscheid zu verhindern», und was getan werde, «um die Würde, den Respekt und die Gleichberechtigung von Menschen mit einem Negativentscheid sicherzustellen».

Das Staatssekretariat hat sich nicht gemeldet, um den Fall aufzuarbeiten, um vielleicht ein paar Lehren daraus zu ziehen, weder bei Saredi noch bei Lotfi oder bei Ghaderis Schwester.

Suizide von Menschen im Asylverfahren, schreibt das Staatssekretariat für Migration auf Anfrage, würden statistisch nicht erfasst, man nehme aber alle Arten von Signalen ernst, und ja, suizidale Absichten könnten «durchaus Einfluss haben auf den Asylentscheid».

Nicht bei Massud Ghaderi.

Nach wie vor werden drei Viertel der Asylgesuche aus dem Iran abgelehnt.

Haben Sie Suizidgedanken oder kennen Sie jemanden, der Unterstützung benötigt? Kontaktieren Sie die Dargebotene Hand, Telefon 143. E-Mail- und Chat-Kontakte finden Sie auf www.143.ch.