Literatur: Der Boden unter seinen Füssen
Für alles den richtigen Song: In «Stay True» schreibt Hua Hsu vom Erwachsenwerden in den Neunzigern und vom Verlust einer Freundschaft.

Als der US-amerikanische Autor Hua Hsu an «Stay True» zu schreiben beginnt, schwebt ihm noch kein Buch vor. Sein Antrieb ist das Bedürfnis, die Zeit zu kapseln, einen Weg zu finden, «sich in die Vergangenheit zu schreiben». Hua Hsu ist 21 Jahre alt, als sein bester Freund Ken nach einer Party im kalifornischen Berkeley bei einem Raubüberfall ermordet wird. Ein Verlust, der Hsus unbeschwerte Collegejahre abrupt beendet und in seinem Leben eine Zäsur markiert. Um mit der tiefen Trauer zurechtzukommen, beginnt er, sich schreibend an die Zeit zu erinnern, als Ken noch lebte, «besessen von der Möglichkeit eines Satzes, der sich einen Weg zurück bahnen konnte».
Rund zwanzig Jahre später, der Autor ist inzwischen Journalist beim «New Yorker» und Englischprofessor am Bard College in New York, erscheint «Stay True» in den USA. 2023 wird das Buch mit dem Pulitzerpreis in der Kategorie «Biografie oder Autobiografie» ausgezeichnet. Nun ist es auch auf Deutsch erschienen. Mehr als zwei Jahrzehnte hat Hua Hsu an diesem Text geschrieben, in dem die reflektierende Stimme des erwachsenen Erzählers sich erinnert, ohne je das Gespür für das jugendliche Alter Ego zu verlieren. Dessen Welt – die Ideale, der Hang zur Dramatik, die Ichbezogenheit – wird dabei dermassen spürbar, dass man sich ob der Gattungsbezeichnung zu wundern beginnt: Memoir? Biografie? Kategorien, die beinah zu trocken klingen für diesen literarischen Text.
«Stay True» ist prall, herzerwärmend und aufrichtig wie selten ein Buch, das sich den Jahren des Erwachsenwerdens widmet. In einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» sagt der Autor dazu passenderweise: «Man muss erklären, wie sehr man einmal gelacht hat, um zu rechtfertigen, wie schmerzhaft der Verlust ist.»
Es ist ein autobiografischer Text, der auch ein Stück Geschichte erzählt: von den Neunzigern in Kalifornien, als Techunternehmen noch nicht ganze Täler dominierten, von der asiatischen Diaspora und bedeutenden asiatisch-amerikanischen Aktivist:innen, Autor:innen und Filmemacher:innen. Und von jungen Menschen, die herausfinden, wer sie sein wollen, während ihnen schleichend bewusst wird, dass diese Fragen auch mit Klasse oder Herkunft zu tun haben.
Smells Like Teen Spirit
Hua Hsus Weltsicht ist von Musik geprägt. Er erstellt Mixtapes für jede erdenkliche Gelegenheit, selbst für die kurze Autofahrt zum nächsten 7-Eleven, die nur «einen Song weit» dauert. Er studiert die Empfehlungen von Musikmagazinen aufs Genauste und verbringt unzählige Stunden in Plattenläden, auf der Suche nach allem, was nicht Mainstream ist – damals Bands wie Pavement, Polvo oder die Sängerin Björk.
Voller Zärtlichkeit und nicht selten in belustigter Verwunderung erinnert sich Hua Hsu an sein jugendliches Ich, das er rückblickend als Kultursnob beschreibt («Ich betrachtete eine schlechte CD-Sammlung als moralische Schwäche»), der sich in der Pose des wichtigtuerischen Zynikers von seinen Gleichaltrigen abzugrenzen sucht. Nirvanas «Smells Like Teen Spirit» beispielsweise findet er grossartig, bis ihm zu Ohren kommt, dass alle Student:innen im Wohnheim die Grunge-Ikonen mögen. Die nerdige Attitüde dient als Verkleidung seiner Unsicherheit, als Bewältigungsstrategie.
Sein bester Freund Ken hingegen ist selbstbewusst, beliebt, hört Classic Rock und – für Hua noch unverzeihlicher – die andere grosse Grungeband, Pearl Jam. Also dauert es eine Weile, bis sich der selbsternannte Subkulturkenner für jemanden wie Ken zu interessieren beginnt. Zaghaft entwickelt sich eine Freundschaft zwischen ihnen, sie sind damals achtzehn. «Vielleicht hiess das, gekannt zu werden, dieses Gefühl, ungeschützt und durchschaubar zu sein», schreibt Hua Hsu an einer Stelle über seinen Freund. Als Ken zehn Jahre später stirbt, verliert Hua Hsu den Boden unter den Füssen.
Keine weissen Männer
Hua Hsus Eltern sind in den sechziger Jahren aus Taiwan zum Studieren in die USA eingewandert, und der Autor spürt im Buch auch ihrer Migrationsgeschichte nach – was es bedeutete, damals in den USA ein Leben aufzubauen. Und wie sich das Identitätsbewusstsein seiner Eltern von seinem eigenen unterscheidet, wenn er sich mit einem neuen Selbstverständnis als Asian-American definiert. «Die erste Generation denkt ans Überleben; die folgenden Generationen erzählen die Geschichten», schreibt er dazu an einer Stelle. Und dass er, genau wie Ken, dessen japanisch-amerikanische Familie schon seit Generationen in den USA lebt, sich immer mehr der fehlenden Repräsentanz bewusst wird. Es fehlt an Vorbildern: «Wir waren keine weissen Männer; das wussten wir. Wir wussten nur nicht, wie wir erklären sollten, wer wir waren.» Dies herauszufinden, auch davon handelt dieses grossartige Buch.
Als Hua Hsus Vater den «New Yorker» abonnierte, fühlte er sich seinerzeit in den Beiträgen nicht repräsentiert – und bestellte das Magazin gleich wieder ab. Sein Sohn ist inzwischen für ebendiese Zeitschrift tätig, er bringt dort Themen in die Redaktion ein, die auch die kulturellen Bezüge seines Vaters aufgreifen. Und erzählt damit nun auch dessen Geschichte.
