Syriens Geheimdienst: Willkür als Prinzip
Als Student sass Jaber Baker im berüchtigten Saidnaya-Gefängnis. Später hat er das System dahinter erforscht. Beim Aufbau des Folterapparats geholfen haben einst die Nazis.
Seit dem 8. Dezember kann der ehemalige Gefangene Jaber Baker nicht aufhören zu weinen. Es sind schwere Tränen der Trauer über die vielen Tausend verschollenen Syrer:innen, deren Tod Gewissheit ist, seit die Gefängnisse des Assad-Regimes aufgebrochen wurden. Es sind aber auch ungläubige Tränen des Glücks darüber, dass er endlich in Freiheit ist. «Zwanzig Jahre nachdem ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, zwölf Jahre nachdem ich aus Syrien floh, bin ich endlich frei», sagt er.
Baker, der als Journalist arbeitet, lebt heute im elsässischen Mulhouse. Letzte Woche sprach er das erste Mal mit seiner Familie in Syrien. Dreizehn Jahre hat er nichts von sich hören lassen – aus Angst, sie sonst in Gefahr zu bringen. «Dreizehn Jahre, die schlimmer waren als die Gefangenschaft selbst.»
In der Nacht vom 8. auf den 9. Dezember haben die Milizen um Ahmed al-Scharaa (bisher bekannt als Muhammad al-Dschaulani) das Saidnaya-Gefängnis des syrischen Geheimdiensts nahe Damaskus eingenommen. Mithilfe der syrischen Zivilschutzorganisation der Weisshelme haben sie sich mit Presslufthämmern durch Zellenwände gearbeitet. Hunderte Gefangene wurden dabei aus dem Komplex befreit, der bis zu drei Stockwerke in die Tiefe reichte. Manche von ihnen waren mehr als vierzig Jahre eingesperrt gewesen. Ein Grossteil der 150 000 Menschen, die in Baschar al-Assads Kerkern verschwanden, bleibt allerdings verschollen. In den letzten Tagen sind Hunderte Syrer:innen aus dem ganzen Land nach Saidnaya gereist, um in den zurückgelassenen Zetteln und Dokumenten nach Hinweisen über den Verbleib ihrer Angehörigen zu suchen.
Weder Logik noch Urteile
Seit vergangener Woche ist das Assad-Regime Geschichte. Gefallen sei es allerdings nicht mit der Flucht des Diktators nach Moskau, sondern mit der Befreiung der Gefängnisse, sagt Jaber Baker. «Dieser Archipel von Foltergefängnissen, der Syrien von Norden nach Süden, von Osten nach Westen durchzogen hat, war das Herz des Regimes – in Saidnaya haben wir es herausgerissen.» Kaum jemand hat dieses System so detailliert erforscht wie Baker: 2023 veröffentlichte er mit dem Buch «Syrian Gulag: Assad’s Prisons, 1970–2020» die erste umfassende Studie über die politischen Gefängnisse des Regimes. Baker selbst wurde als junger Student vom Militärgeheimdienst gefangen genommen, nachdem ihm «Freimaurerei» unterstellt worden war. «Ich habe im Verhör gesagt: Es gibt keine Freimaurerlogen in Syrien, ich bin unschuldig.» Seine Befrager hätten bloss geantwortet: «Das wissen wir, aber darum geht es nicht.»
Ziel des Systems Saidnaya sei es gewesen, dass sich niemand im Land sicher fühle, sagt Baker. Seine Zelle damals habe die syrische Gesellschaft in all ihren Facetten repräsentiert: «Da waren Kriminelle, Intellektuelle, Militärs, Bürokraten, die Alten und die Jungen, Kurden, Alawiten, Sunniten, Schiiten, Christen, Tscherkessen, Armenier und Araber.» Jede:r Syrer:in konnte zum Opfer des Willkürsystems werden. «Und weil wir das wussten, lebten wir alle in ständiger Angst», erinnert sich Baker.
In den letzten Tagen ist ein Teil dieses Folterapparats zum ersten Mal sichtbar geworden: Handschellen, die von Decken baumeln; winzige, dunkle, blutverschmierte Zellen, an deren Wänden sich Kratzspuren von den Fingernägeln der Gefangenen wiederfinden. Was Baker beschreibt, ist ein System, das weder Logik noch Urteile kannte. Um nicht durchzudrehen, hätten sich die Menschen selbst verurteilt: «Man hat sich gesagt: ‹Jaber, ich verurteile dich zu sechs Monaten Knast.› Und wenn man sie abgesessen hatte, hat man sich sechs weitere Jahre gegeben.»
Nur so hätten die Gefangenen etwas gehabt, woran sie sich festhalten konnten. «Es war, wie der österreichische Psychiater und ehemalige KZ-Häftling Viktor Frankl in seinem Buch ‹… trotzdem Ja zum Leben sagen› geschrieben hat: Das Wichtigste sei es, einen Sinn im Leid zu sehen, um nicht daran zu zerbrechen.» Was für Frankl in Auschwitz-Birkenau die Vorstellung war, einmal Vorlesungen über die Psyche der Menschen im Lager zu halten, war für Baker die Idee, das grausame Gefängnissystem zu erforschen, sobald er frei ist.
Einer blieb
Die Parallelen zwischen dem Leid ehemaliger KZ-Häftlinge und jenem der Insassen syrischer Foltergefängnisse seien kein Zufall, sagt Baker. Die Gewalt speise sich aus zwei einander eng verwandten Anschauungen: «Hitlers Nazismus und Assads Baathismus sind faschistische Ideologien, die darauf abzielen, den Staatskörper zu ‹reinigen› und Personen aus der Gesellschaft zu entfernen, die ihnen nicht passen. Dafür haben die Nazis Konzentrationslager errichtet und das Assad-Regime ein Netzwerk aus Foltergefängnissen.»
In den letzten Jahren hat Archivforschung in Deutschland zudem gezeigt: Die Nazis haben beim Aufbau des syrischen Geheimdiensts mitgeholfen. Bereits 1948 sind ehemalige Nazis als Militärberater in Syrien eingetroffen – der wahrscheinlich prominenteste unter ihnen ist Walther Rauff. Als Erfinder mobiler Gaskammern bekannt, wurde Rauff später Kommandeur in der «Einsatzgruppe Ägypten»: «Er sollte die Vernichtung der Jüd:innen in Ägypten und Palästina verantworten. Weil er als Arabienexperte galt, wurde er vom syrischen Diktator Husni al-Saim rekrutiert», sagt der israelische Historiker Danny Orbach, Autor des Buches «Fugitives: A History of Nazi Mercenaries During the Cold War» (2022).
Der erste Chef des Bundesnachrichtendiensts, Reinhard Gehlen, prahlte einmal, die Syrer schätzten die «aktive Kriegserfahrung» von Altnazis, da diese «keinem fremden Staat verpflichtet» seien. Gegenüber dem Bundeskanzleramt äusserte er 1951 den Wunsch, der privaten deutschen Beratergruppe um Walther Rauff ideelle Unterstützung der deutschen Regierung zukommen zu lassen – dazu kam es allerdings nicht. Nach Unruhen in Syrien wanderten die meisten Altnazis bis 1956 nach Argentinien ab. Doch einer blieb: Alois Brunner, einst Adolf Eichmanns rechte Hand, lebte getarnt als «Dr. Georg Fischer» im Diplomatenviertel von Damaskus. Diese Informationen wurden 2022 durch die Herausgabe der Akte des Bundesamts für Verfassungsschutz bekannt.
Gemeinsam mit Franz Rademacher, einst Leiter des «Judenreferats» im NS-Aussenministerium, sollte Brunner unter Diktator Saim dabei helfen, den syrischen Geheimdienst aufzubauen. Über ihre Arbeit ist nur wenig Konkretes bekannt. Belegt sei aber, dass «die beiden die syrische Geheimpolizei beraten und trainiert haben, wahrscheinlich auch in Foltertechniken», sagt Historiker Orbach. Der israelische Geheimdienst Mossad versuchte mindestens einmal, Brunner in Damaskus zu töten. Und Fritz Bauer, der sich als hessischer Generalstaatsanwalt für die Verfolgung von NS-Verbrechen einsetzte, bemühte sich um Brunners Auslieferung – das Assad-Regime deckte diesen allerdings bis zu dessen Tod in den nuller Jahren.
Saidnaya als Gedenkstätte
Ehemalige Nazis waren indes nicht die einzigen deutschen Kollaborateure des syrischen Geheimdiensts. Die Anerkennung der DDR als Staat durch Syrien im Juli 1969 führte zu einer intensiveren Zusammenarbeit und verstärkten Geschäftsbeziehungen, insbesondere mit der syrischen Luftwaffe und Armee des Landes: In der DDR wurden ausländische Militärs einschliesslich Syrern im Rahmen der antiimperialen Unterstützung für sozialistische Staaten ausgebildet und mit Waffen beliefert. 1979 wurde ein umfassendes Handelsabkommen abgeschlossen, das bis 1990 galt und neben Brennstoffen und Textilien auch Rüstungsgüter umfasste.
Am Ende, sagt der Journalist Jaber Baker, sei es aber wichtig zu betonen: Nicht die Deutschen, sondern das Assad-Regime selbst habe den Folterapparat geschaffen – und dabei nicht nur die Foltermethoden der Nazis gelernt, sondern auch jene aus Frankreich und den USA. Und man habe nicht nur mit der Stasi kollaboriert, sondern allen voran mit dem KGB. Für Baker stellt sich nun vor allem eine Frage: Was soll jetzt mit jenen passieren, die bis zuletzt in diesem Folterapparat gearbeitet haben?
137 000 Mitarbeiter:innen soll der Geheimdienst laut Baker bis 2010 gehabt haben. Doch weil sich auch die Zahl der Gefangenen seit Beginn der Revolution 2011 schlagartig von 5000 auf bis zu 150 000 erhöht habe, sei auch die Zahl der Geheimdienstler:innen inzwischen höher. Die führenden Köpfe sind in den letzten Tagen in Länder wie Russland, den Iran oder den Libanon geflohen, während sich die meisten anderen wahrscheinlich noch in Syrien befinden und versucht haben unterzutauchen. «Wir brauchen keine Rache, aber wir brauchen Gerechtigkeit, damit wir Überlebenden Ruhe finden. Diese Menschen sind Syrer und Teil des neuen Syrien, daher müssen wir hier einen Weg finden und nicht im Ausland.»
Baker hat seiner Frau versprochen, mit der Arbeit zu den Foltergefängnissen aufzuhören, sobald diese zerstört sind. «Ich kann mich jetzt endlich um die Gefangenen kümmern, sie sind so etwas wie meine Familie», sagt er. «Es muss Orte geben, an denen wir heilen, unsere Geschichten erzählen können.» Geht es nach ihm, soll Saidnaya zu einer Gedenkstätte werden, um an die Gewalt des Systems zu erinnern. Und ein Startpunkt für die Aufarbeitung der Verbrechen des Assad-Regimes. Dabei wird es in den kommenden Jahren auch um Deutschlands Rolle beim Aufbau des Folterapparats gehen.