Österreichs Orbanisierung: Die zertrümmerte Brandmauer
Eklatante Prinzipienlosigkeit und Gier: Liberale und Konservative ermöglichen der rechtsextremen FPÖ den Zugriff aufs Kanzleramt.
Alexander Van der Bellen ist ein krisenerprobtes Staatsoberhaupt. Doch als er am Sonntag vor die Mikrofone tritt, fällt es auch ihm schwer, in Worte zu fassen, was gerade passiert: «Wenn ich etwas gelernt habe in meiner Zeit als Präsident der Republik Österreich, dann ist es, dass es wirklich immer wieder neue Situationen gibt – man denkt, man kennt die Lage, man hat schon wirklich viel erlebt, und dann, plötzlich, gibt es wieder eine neue Situation.» An den beiden Tagen zuvor war Österreich in eine tiefe, demokratiegefährdende Krise geraten.
Nachdem die liberalen Neos am Freitag die Koalitionsverhandlungen mit der konservativen ÖVP und der sozialdemokratischen SPÖ hatten platzen lassen, sah es zunächst noch danach aus, dass die beiden verbliebenen Parteien versuchen würden, zu zweit eine Regierung mit hauchdünner Mehrheit zu bilden. Doch dann erklärte am Samstag auch ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer die Gespräche plötzlich für gescheitert und kündigte seinen Rücktritt an. Damit waren, wie Van der Bellen in seiner Rede feststellte, jene «Stimmen in der ÖVP, die eine Koalition mit Herbert Kickl ausschliessen, leiser geworden» – ein Euphemismus für die Kehrtwende, mit der die ÖVP ihr vor der Wahl endlos wiederholtes Versprechen in die Tonne trat, nicht mit der «Kickl-FPÖ» zu koalieren.
Niemand will es gewollt haben
So blieb Van der Bellen am Montag nichts anderes übrig, als FPÖ-Chef Herbert Kickl den Auftrag zur Regierungsbildung zu erteilen. Der inzwischen eilig berufene neue ÖVP-Obmann Christian Stocker hatte da bereits signalisiert, dass man einer Gesprächseinladung der FPÖ folgen würde. Damit dürfte es in Österreich nun zur ersten rechtsextrem geführten Bundesregierung seit 1945 kommen. Der Regierungschef eines Landes, das NS-Terror und Shoah mitverantwortet, wird allem Anschein nach bald von einer indirekten Nachfolgepartei der NSDAP gestellt.
Gewiss: Dass Kickl wahrscheinlich nun doch Kanzler wird, will ausser der FPÖ niemand gewollt haben. Doch es handelt sich dabei nicht um das Ergebnis einer tragischen Kettenreaktion, deren Ausgang niemand vorhersehen konnte, sondern um das Produkt von eklatanter Prinzipienlosigkeit und Gier. Offenbar war es Liberalen und Konservativen wichtiger, noch die bescheidensten Mehrbelastungen für Grosskonzerne und Hochvermögende abzublocken, als eine von Rechtsextremen geführte Regierung zu verhindern.
Letztlich scheiterten die Verhandlungen offenbar nicht daran, dass die SPÖ auf Vermögens- und Erbschaftssteuern insistiert hätte. Zwar beharrten die Sozialdemokrat:innen unter Andreas Babler darauf, dass bei den erforderlichen Sparmassnahmen auch «breite Schultern» etwas tragen müssten, liessen aber offen, in welcher Form das geschehen sollte. Trotzdem konnten sich die Neos darauf nicht einlassen. Die Parteivorsitzende Beate Meinl-Reisinger betont indessen immer wieder, die Gespräche seien an fehlender Bereitschaft zu Pensionskürzungen gescheitert.
Und die ÖVP ist schliesslich vom Tisch aufgestanden, als es um eine zweiprozentige Anhebung der Körperschaftssteuer für grosse Unternehmen und eine Erhöhung der Bankenabgabe ging, die aktuell 0,024 bis 0,029 Prozent der Bilanzsumme beträgt. Lieber begab sich die offenbar von Industriellenvereinigung und Wirtschaftsbund kontrollierte Volkspartei in den Schwitzkasten der FPÖ. Hatte Stocker Kickl im Parlament kürzlich noch entgegengeschmettert, «dass Sie in dieser Republik niemand braucht», braucht nun er Kickl und wird in den Verhandlungen mit dem ehemaligen Innenminister viele Kröten schlucken müssen. Andernfalls droht die ÖVP bei Neuwahlen für den Bruch ihres zentralen Wahlversprechens, nicht mit der FPÖ zu koalieren, abgestraft zu werden – und die FPÖ aufgrund des entstandenen Chaos noch stärker abzuschneiden.
Seit Jahren angenähert
Daher ist anzunehmen, dass die anstehenden Gespräche nicht abermals knapp hundert Tage dauern werden, zumal sich beide Parteien in Bereichen wie der Wirtschafts-, Sozial- und Asylpolitik seit Jahren aufeinander zubewegen. Schwieriger dürften Einigungen in der Aussen-, Europa- und Verteidigungspolitik werden. Zudem dürfte die Ressortverteilung Probleme machen, bei der auch Van der Bellen mitreden wird.
Österreich steht eine Orbanisierung durch regierungserprobte Rechtsextreme ins Haus, die die ÖVP entgegen ihren Wahlversprechen an die Schaltstellen der Macht befördert. Die Bürgerlichen reichen Kickl die Gelegenheit zum autoritären Umbau nach ungarischem Modell auf dem Präsentierteller und verscherbeln somit Demokratie und Rechtsstaat. So ist mehr denn je die österreichische Zivilgesellschaft gefordert, die vor der Wahl gelähmt erschien. An diesem Donnerstag ist eine erste Demonstration auf dem Ballhausplatz in Wien angekündigt – ganz in der Tradition jener «Donnerstagsdemos», bei denen vor 25 Jahren Zigtausende Menschen Protest einlegten, als die ÖVP das erste Mal trotz gegenteiliger Versprechen mit der FPÖ koalierte.