Gesellschaftstheorie: Im Sog des kognitiven Kapitalismus

Nr. 8 –

Der Kampf um die kulturelle Hegemonie ist in vollem Gang: Der Soziologe Andreas Reckwitz beleuchtet in einer neuen Aufsatzsammlung die Gegenwart.

«Man redet wieder von Klassen, wenn schon nicht vom Klassenkampf.» Klasse sei ein «Unruhekonzept» und ein ausgesprochen «umkämpftes Feld», sagte Andreas Reckwitz vergangenen November anlässlich der laufenden Mosse-Lectures zum Thema Klassenfragen an der Berliner Humboldt-Universität. Dabei zitierte er einen Urvater des Liberalismus, Friedrich Naumann, der einmal gefordert hatte, den «Klassencharakter des Liberalismus» anzuerkennen. Solch kämpferischen Gestus verbietet dem 1970 geborenen Soziologen die wissenschaftliche Seriosität, für ihn ist der Begriff «Klasse» zur Beschreibung sozialer Hierarchien einfach prägnanter als etwa «Schicht» oder «Milieu». «‹Klasse›», so der Autor im Gespräch, «beinhaltet eine bestimmte kulturelle Lebensform, eine bestimmte Situierung im Arbeitsprozess, auch in Bezug auf die Ressourcenverteilung.»

Über den Wandel der Lebensformen hatte der Berliner Kultursoziologe bereits in seinem viel rezipierten Buch «Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne» (2017) inspirierend Auskunft gegeben. In seinem neuen, thematisch locker zusammengesetzten Aufsatzband «Das Ende der Illusionen» weitet er den Blick von der Kultur auf die Politik und Ökonomie der Spätmoderne aus, die er als Zeitalter der Desillusion verstanden wissen will: dystopisch grundiert und bevölkert von Enttäuschten, die man unter therapeutischer Perspektive als manisch-depressiv diagnostizieren müsste, wie er einleitend schreibt. Diese Gesellschaft des «radikalen Individualismus» prägt nicht nur die Bewusstseinssysteme der Menschen, sondern auch die Produktionssphäre, indem Dinge, Dienste und Ereignisse unter enormen Innovationsdruck geraten und auf Kreativität und Anziehungskraft ausgerichtet sind. Reckwitz nennt das Kulturkapitalismus oder kognitiv-kulturellen Kapitalismus, der die Kulturalisierung des Sozialen mit einschliesst.

Die neue Dreiklassengesellschaft

Betrachtet man zunächst die Sozialstruktur, hat der Postindustrialismus eine neue Form der Dreiklassengesellschaft hervorgebracht. Angetrieben wurde dieser Prozess durch die Transformation der Produktion und die Ausweitung des tertiären Sektors, die Bildungsexpansion und einen Wertewandel. Die alte breite Mittelschicht, in die auch die Facharbeiterschaft aufrücken konnte und die Trägerin der «nivellierten Mittelstandsgesellschaft» (Helmut Schelsky) war, bricht auseinander. Es entsteht eine neue, gut qualifizierte, in den Metropolen ansässige Mittelklasse mit hohem Bildungskapital, mental weit entfernt von der traditionellen Mittelklasse, die ökonomisch zwar (noch) nicht abgehängt, aber im ländlich-kleinstädtischen Raum verwurzelt ist und noch immer einem selbstdisziplinierten Ordnungsdenken anhängt.

Zusätzlich bedrängt wird die Mittelklasse von der Erodierung der mittleren Tätigkeiten, also den qualifizierten Berufen in Industrie und Verwaltung. Der «professional class», der neuen Mittelklasse, steht eine sich ständig ausweitende «service class» gegenüber, der untere Teil des «polarisierten Postindustrialismus». Mit wenig ökonomischem und kulturellem Kapital ausgestattet, ist das Leben der prekären Klasse nicht mehr auf langfristige Planungen ausgerichtet, und Aufstiegshoffnungen schwinden.

In diesen beiden Segmenten geht der Transformationsprozess mit einer Reihe von Auf- und Abwertungen einher. Die neue «professional class» kultiviert Werte, die sich nicht (nur) in materiellem Erfolg ausdrücken, sondern auch Selbstentfaltung im Beruf, Mobilität und Freizeitkultur umfassen, während die traditionelle Mittelklasse erleben muss, wie kultivierte Essentials wie Selbstdisziplin und Pflichtbewusstsein an Nimbus einbüssen, mittlere Bildungsabschlüsse entwertet und ländliche Räume abgehängt werden. Als Klasse verliert sie an Einfluss, auch politisch. Die Angst vor dem Abstieg ist evident.

Explosive Neogemeinschaften

Das schürt Kulturkonflikte aller Art, denn die kosmopolitische Erlebniskultur mit ihrem Möglichkeitscharakter – alles ist möglich und darf beansprucht werden – prallt auf einen kollektiven Kulturnationalismus, der von den ModernisierungsverliererInnen in Form des Rechtspopulismus bis hin zum fundamentalistischen Terror mobilisiert wird. Während sich die neue Mittelklasse auf dem «Markt der Sichtbarkeit und Attraktivität» bis zur Erschöpfung verausgabt, um ihre «Besonderheit» unter Beweis zu stellen – in Form «authentischer» Selbstinszenierung und Selbstverwirklichung –, schliessen sich die davon Ausgeschlossenen in homogenen, explosiven Neogemeinschaften zusammen, von denen Pegida nur ein politisch sichtbarer Ausdruck ist. Der Kampf um Kulturhegemonie ist in vollem Gang, mit offenem Ausgang.

Es ist die besondere Leistung von Reckwitz, ökonomische, soziale und kulturelle Prozesse zusammenzudenken und sie auf ihre Wirkungen und Paradoxien zu befragen. So führt er etwa aus, wie die Arbeit am Selbst, die einer gesteigerten Subjektkultur Rechnung trägt, gerade nicht wie etwa in der früheren Jugendkultur zu «Selbstverwirklichung» führt, sondern zu einer Art Zwang zur Selbstentfaltung. «Das ursprünglich romantische gegenkulturelle Konzept wird verbunden mit dem traditionellen bürgerlichen Muster sozialen Reüssierens, Romantik und Bürgerlichkeit zugleich», sagt Reckwitz.

Überall Optimierungsdruck

In den Sog des kognitiv-kulturellen Kapitalismus geraten aber auch die Güter, die über den Gebrauchswert hinaus ästhetisch, narrativ oder ethisch aufgeladen werden und erhöhter Lebensqualität oder der Erfahrungssuche dienen: das singuläre Möbel, die exklusive, über Smartphone verbürgte Urlaubsreise und so weiter. Oder aber sie treten selbst schon als immaterielles Kapital in Erscheinung in Form von Patenten, Urheberrechten, Netzwerken oder Datenbeständen. Optimierungsdruck unter Wettbewerbsbedingungen ist das Hauptmerkmal nicht nur dieser immer immaterielleren Ökonomie, sondern auch der Selbstvermarktung der Subjekte. Die Ökonomisierung bisher nicht kommerzieller Bereiche – von der Bildung bis zum Partnermarkt – ist nur extremer Ausfluss dieser «Besonderheitsproduktion».

Schwächer ist Reckwitz’ Buch dort, wo er die Analyse verlässt und in die Gefilde politischer Normativität gerät. Im letzten Aufsatz entwickelt er – durchaus anregend – ein von Krisen getriebenes Phasenmodell des Liberalismus, das über den Rechts-links-Gegensatz hinaus vom Wechsel zwischen Regulierung und Dynamisierung geprägt ist. Doch immer auf der Spur von Strukturen, unterschlägt der Soziologe dabei nicht nur historische Nuancen bis hin zu einer Lesart des europäischen Faschismus, der lediglich als «Systemalternative» zum Liberalismus aufscheint, sondern er bleibt auch im Denkhorizont eines letztlich siegreichen Liberalismus gefangen und unterschätzt die Dynamisierungskraft des Populismus. Diesen nimmt er lediglich als «Krisensymptom» und nicht als übergreifendes politisches Paradigma wahr – erstaunlich angesichts des Buchtitels, der das «Ende der Illusionen» ankündigt.

Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Suhrkamp Verlag. Berlin 2019. 304 Seiten. 24 Franken