Wie inklusiv ist die Schweiz?: «Es gibt noch grosse Defizite»

Nr. 5 –

Die Schweiz hat die Uno-Behindertenrechtskonvention vor sechs Jahren ratifiziert. Caroline Hess-Klein vom Dachverband der Behindertenorganisationen kritisiert die Zurückhaltung des Bundes.

WOZ: Frau Hess-Klein, Sie arbeiten für Inclusion Handicap, den Dachverband der Behindertenorganisationen. Was bedeutet der Begriff «Inklusion» für Sie?
Caroline Hess-Klein: Inklusiv ist eine Gesellschaft, die so funktioniert, dass alle gleichberechtigt und möglichst autonom an ihr teilhaben können. In Bezug auf Menschen mit Beeinträchtigung gilt: Je zugänglicher die Umwelt, desto weniger behindert sind die Menschen. Behinderung ist also ein Faktor, der sehr variabel ist. Ein Beispiel: Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung sind sehr geräuschempfindlich. Schafft man eine Umgebung, die darauf Rücksicht nimmt, durch reduzierte Beschallung in Warenhäusern etwa, fällt es solchen Menschen viel leichter, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Wie inklusiv ist die Schweiz?
In den letzten Jahren ist einiges passiert. Noch vor wenigen Jahren wurden etwa Menschen im Rollstuhl, die mit dem Zug reisten, im SBB-Gepäckraum transportiert. So etwas ist heute nicht mehr denkbar. Menschen mit Beeinträchtigung sind allerdings noch immer täglich mit teils unüberwindbaren Hindernissen konfrontiert, mit Treppen, fehlenden Markierungen für Sehbehinderte, einer komplexen Sprache, die besonders Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung überfordert. Noch immer fehlt das Bewusstsein, wie umfassend die Massnahmen zur Verhinderung von Diskriminierung sein müssen.

Nun hat die Schweiz 2014 das Übereinkommen über die  Rechte von Menschen mit Behinderungen der Uno (UN-BRK) ratifiziert. Wie wichtig ist das für die Gleichberechtigung von Menschen mit Beeinträchtigung?
Eine Stärke der UN-BRK ist ihre Verbindlichkeit. Die Konvention ist ein Rechtstext. Sie verpflichtet die Schweiz gegenüber den anderen Mitgliedstaaten – mittlerweile sind es 181 –, die Vorgaben der Konvention umzusetzen. Am Stammtisch hört man immer wieder, die Schweiz unternehme im Vergleich zu anderen Ländern sehr viel. Ob die Schweiz den Anforderungen der UN-BRK entspricht, wird allerdings an ihren Ressourcen beurteilt.

Und wie sieht es diesbezüglich aus?
Es gab beispielsweise grosse Fortschritte im Bereich des öffentlichen Verkehrs. Auch auf kantonaler Ebene tut sich allmählich etwas. Ein gutes Beispiel ist der Kanton Basel-Stadt: Als erster Kanton hat er einstimmig ein Behindertengleichstellungsgesetz verabschiedet, das in zahlreichen Bereichen greift und den Menschen mit Behinderungen das Recht gibt, gegen Benachteiligungen zu prozessieren.

Die Schweiz ist also auf Kurs?
Eine konsequente Umsetzung der UN-BRK ist mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen verbunden. Diese brauchen Zeit. Es gibt also noch immer grosse Defizite. Der Bund ist zum Beispiel bei der Einführung verbindlicher Rechtsgrundlagen zurückhaltend. Genau diese sind aber zentral, um Diskriminierungen beseitigen zu können. Nehmen wir das Beispiel einer Person, die aufgrund ihrer starken Sehbehinderung von einem privaten Unternehmen nicht eingestellt wird. Für diese Personen gibt es heute in der Schweiz keinen spezifischen Rechtsschutz, obwohl die UN-BRK danach verlangt. Natürlich kann man nicht von heute auf morgen in allen Bereichen aktiv werden. Es fehlt aber eine einheitliche Roadmap für die nächsten zehn bis zwanzig Jahre. Diese müsste für alle Bereiche der UN-BRK aufzeigen, wo Handlungsbedarf besteht und welche Massnahmen ergriffen werden müssen.