Historienfilme: Aus der Zeit gefallen
Neuere Schweizer Historienfilme wie aktuell «Friedas Fall» interessieren sich vermehrt für Klassen- und Geschlechterfragen. Wie ernst ist es ihnen damit?

Philosophisch gesehen, ereignet sich Geschichte in dem Moment, in dem man sich mit ihr beschäftigt. So prägt jede Gegenwart ihre ganz eigene Vergangenheit. Man könnte auch sagen, Vergangenheit ist immer das, was wir aus ihr machen, um unsere Gegenwart erklären oder neu betrachten zu können. In Darstellungen historischer Ereignisse oder Lebensgeschichten spiegeln sich Vergangenheit und Gegenwart gegenseitig, im besten Fall erhellend in beide Richtungen.
Mit «Jakobs Ross» und «Landesverräter» kamen im letzten Jahr zwei Spielfilme ins Kino, die von Ausbeutung und Diskriminierung in der Schweiz in den letzten beiden Jahrhunderten erzählen. «Friedas Fall», die Verfilmung von Michèle Minellis historischem Roman über das Leben einer 1904 in St. Gallen zum Tod verurteilten Kindsmörderin, setzt diesen Trend nun in ähnlichem Stil fort. Die Regisseur:innen der drei Filme haben alle in Interviews beteuert, dass sie sich von ihren Filmen Diskussionen über vergleichbare Verhältnisse in der Gegenwart erhoffen. Nur, was sind das eigentlich für Verhältnisse, die sich in diesen Vergangenheitsentwürfen spiegeln?
Bloss keine Komplexität
Die Geschichte der Frieda Keller, einer jungen Schneiderin aus armen Verhältnissen, ist ein Paradebeispiel für die Kaskaden an Frauen- und Klassendiskriminierung in der Schweiz um die Jahrhundertwende: Geschwängert bei einer Vergewaltigung, ohne Recht auf Abtreibung, mit einem Lohn, von dem sie selbst kaum leben, geschweige denn das Kostgeld für die Kinderbewahranstalt ihres Sohnes bezahlen kann, muss sie – im Heim ist angeblich kein Platz mehr – den fünfjährigen, «schandbehafteten» Ernstli eines Tages zu sich holen. Sie tötet ihn noch am selben Tag und gesteht die Tat sofort, als die Polizei sie später mit dem Leichenfund konfrontiert.
Der Prozess löste landesweit Kontroversen über das diskriminierende Schweizer Strafrechtssystem aus und befeuerte die Frauen- und Arbeiterinnenbewegung. Im Zentrum der Debatte standen die Todesstrafe sowie rechtliche Fragen zu «Unsittlichkeit» und «Notzucht». Zumindest im Kanton Thurgau, wo der Wirt wohnte, der Frieda vergewaltigt hatte, liess das Gesetz noch keine Vaterschaftsklagen gegen verheiratete Männer zu. Frauen wie Frieda, die deren «Zudringlichkeiten» nicht «standhalten» konnten, wie sich der Staatsanwalt ausgedrückt haben soll, mussten die Folgen ihrer «Unsittlichkeit» selber tragen.
Stoff genug für einen Film, könnte man meinen. Doch der Regisseurin Maria Brendle («Ala Kachuu») geht es um mehr, oder besser: um weniger. Ihr Film rückt zwar den Prozess in den Vordergrund und mit ihm die grosse Frage nach den Hintergründen der Tat. War es Totschlag im Affekt oder vorsätzlicher Mord? Verzweiflung, Selbstsucht oder Wahnsinn? Anders als etwa in «Saint Omer» (2022), dem ebenfalls auf einem realen Fall von Kindstötung beruhenden Justizdrama von Alice Diop, führt das hier aber nicht zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der gerade im Zusammenhang mit Mutterschaft wieder hochaktuellen Frage nach dem Verhältnis von Eigenverantwortung und strukturellen Voraussetzungen. Im Gegenteil: «Friedas Fall» setzt alles daran, ja keine Komplexität aufkommen zu lassen.
Als wollte der Film dafür sorgen, dass niemand merkt, wie düster dieser Stoff ist, schwelgt er in bittersüssen Wald- und Wiesenszenen, die das Trauma von Friedas Tat verdeutlichen sollen, und schickt neben Frieda (überzeugend gespielt von Julia Buchmann) zwei Gockel in den Ring: Staatsanwalt Gmür (Stefan Merki) plädiert auf Todesstrafe wegen Mord, Strafverteidiger Janggen (Max Simonischek) auf «mildernde Umstände» – der eine alt und engstirnig, der andere jung und smart, beide hauptsächlich an ihrer Karriere und ihren ach so dominanten, frühemanzipierten Frauen interessiert. Das führt zu abstrusen Wendungen, etwa wenn die «Kindsmörderin» bei einem karrierefördernden Diner der Gmürs für das verletzte Dienstmädchen einspringt. Und zu einem haarsträubend versöhnlichen Schluss: Mit dem Hinweis auf die gesellschaftlichen Hintergründe seiner «Tat» bittet der Staatsanwalt die zum Tod verurteilte Frieda um Entschuldigung: «Ich bin Staatsanwalt, ich konnte nicht anders!»
Komplizen der Verhältnisse
Das, vorsichtig ausgedrückt, unnötige Dorftheater um die beiden Anwaltspaare lässt den Prozess weitgehend zur Farce verkommen und verhöhnt die Fragen nach Repräsentation und Deutungshoheit, die im Zusammenhang mit Diskriminierung seit rund sechzig Jahren thematisiert werden. Das Problem liegt nicht darin, dass zu wenig Frauen beteiligt oder Frauenfiguren berücksichtigt worden wären – hier ist «Friedas Fall» vorbildhaft. Doch neben dem eitlen Gehabe der Anwälte verkommen die Frauen zum Alibi, um Gleichberechtigung gegenwartswirksam auf eine Frage von Empathie, Fürsorge und Gesetzesreformen zu reduzieren und damit von der bis heute anhaltenden strukturellen Ungleichheit abzulenken. Symptomatisch dafür auch die aktuellen Slogans, die die Demonstrantinnen auf dem zum historischen Wimmelbild ausstaffierten St. Galler Klosterplatz auf Schildern betont unauffällig in Richtung Kamera drehen, darunter allen Ernstes auch «Frau, Leben, Freiheit», der kurdische Slogan der aktuellen Proteste im Iran.
Filme wie «Friedas Fall» machen sich so zu ästhetischen Komplizen der Verhältnisse, die sie vordergründig problematisieren – und das gilt auch für «Jakobs Ross», Katalin Gödrös’ Verfilmung des historischen Romans von Silvia Tschui, und «Landesverräter», Michael Krummenachers Spielfilm über den realen Fall des Ernst Schrämli. Beide bemühen reihenweise Klassen- und Geschlechterstereotype für ihre klassen- und sexismuskritischen Emanzipationsgeschichten, die vor allem eins spiegeln: bürgerliche Deutungsreflexe, die wir aus den Zeiten geerbt haben, von denen die Filme handeln. Was treibt ein Arbeiterheimkind zur Rebellion gegen seine Ausbeutung? Ein Vaterkomplex. Und was bedeutete Freiheit im 19. Jahrhundert? Selbstverwirklichung.
Uneingelöste Erwartungen der Vergangenheit können für die Zukunftsentwürfe der Gegenwart zurückgewonnen werden. Darin lag für den französischen Philosophen Paul Ricœur der politische Reiz einer Auseinandersetzung mit Geschichte. In «Friedas Fall», «Jakobs Ross» und «Landesverräter» könnte das der Anspruch auf das demokratische Grundversprechen der Gleichberechtigung sein. Bezüge zu heutigen Debatten über Chancengleichheit lägen auf der Hand, geraten aber so oberflächlich, dass davon nur ein Schulterklopfen für die Gegenwart bleibt: Wir dürfen uns freuen, die Probleme von damals anscheinend überwunden zu haben.
Dabei sind diese Filme selbst ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich an den tiefer liegenden Strukturen von Ausbeutung und Diskriminierung so viel noch nicht geändert haben kann – sonst bräuchten sie nicht so gefällig zu sein.
Dass es auch anders geht, haben unlängst zwei andere Schweizer Historienfilme gezeigt: «Unrueh», Cyril Schäublins filmisches Tableau über die anarchistisch geprägte Gewerkschaftsbewegung der Uhrmacher:innen des 19. Jahrhunderts, und «Foudre», Carmen Jaquiers Erweckungsdrama um göttliches Begehren und sexuelle Repression in einem Schweizer Bergdorf zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ob Befreiung der Zeit («Unrueh») oder der Sexualität («Foudre») – beide Filme lösen die historischen «Erwartungen», die sie verhandeln, auch ästhetisch ein, indem sie ihre Bild- und Erzählkompositionen an den Werten ausrichten, die ihre Protagonist:innen hochhalten: Aufhebung hierarchischer Strukturen, kollektive Selbstverwaltung und Sexpositivität.
Die entdeckte «Zukunft der Vergangenheit kann auch unsere eigene Zukunft werden», war Ricœur überzeugt. Das kann man als Warnung verstehen. Aber auch als Chance.
«Friedas Fall» läuft jetzt im Kino (2025). «Jakobs Ross» und «Landesverräter» sind als Stream auf diversen Plattformen zu sehen.