1942 im Kino: Mundgeruch haben immer die anderen
«Ernst S.» ist zurück: Der Spielfilm «Landesverräter» greift den Fall aus Richard Dindos legendär umstrittenem Dokumentarfilm von 1976 wieder auf. Brisanter ist aber ein neuer Film über eine ganz andere «Landesverräterin».

Der 23-jährige Ernst S. war der erste von insgesamt siebzehn Armeeangehörigen, die in der Schweiz zwischen 1942 und 1944 wegen «Landesverrats» erschossen wurden. Als Niklaus Meienberg in den frühen siebziger Jahren dem Fall nachging, lag der Zweite Weltkrieg noch keine dreissig Jahre zurück, und bis zur offiziellen Aufarbeitung der Schweizer Verstrickungen mit Nazi-Deutschland durch die Bergier-Kommission sollte es noch über zwanzig Jahre dauern. Die «politisch bedeutenden, demokratiegefährdenden, massgeblichen, prominenten Faschisten und Hitler-Freunde in diesem Land» waren straffrei oder mit Disziplinarverfahren davongekommen. Was also – wollte der Journalist wissen – hatte Ernst S. verbrochen?
Die Frage war naheliegend, aber in den politisch bedeutenden Kreisen kam sie gar nicht gut an. Die Aktenschränke der Armee blieben verschlossen; von wenigen Dokumenten abgesehen, die Meienberg heimlich sichten konnte, stützte sich seine Reportage auf Aussagen von Zeit- und Augenzeug:innen. Die ersten Artikel erschienen 1973 im «Tages-Anzeiger-Magazin», das Buch folgte 1977 unter dem Titel «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.». Die höchsten Wellen aber schlug der gleichnamige Dokumentarfilm, den Richard Dindo, ausgehend vom Manuskript des befreundeten Autors, drehte und der noch vor der Buchveröffentlichung in die Kinos kam.
Klassenfrage in der Filmpolitik
Der Film reichert Meienbergs Recherche mit Schauplätzen, Menschen, Gefühlen und Ausschnitten aus Wochenschauen an. Er zeigt die abgelegene «Moosmühle», in deren Nähe die kinderreiche Arbeiterfamilie S. gewohnt hatte, die Hüslibrücke im Sittertobel, von der aus Ernst gerne ins Wasser gesprungen war, die Färberei, in der er schon mit vierzehn für einen Hungerlohn hatte arbeiten müssen, das Erziehungsheim, in das man ihn wegen «Müssiggangs» gesteckt hatte, und auch das Waldstück, wo er erschossen wurde. Seine Brüder kommen zu Wort, seine Vermieterin, sein Vormund, Dienstkameraden und Bekannte, sogar ein Mitglied des Erschiessungspelotons. Und alle sind sich einig: Ernst S. mag ein «lustiger Schnuderi» gewesen sein, eigensinnig, stolz, ein Schlitzohr und Gelegenheitsdieb – aber mit Sicherheit «kein Nazi».
Auch die Verantwortlichen werden um Stellungnahmen gebeten. Ihre herablassenden oder ausweichenden Antworten stehen im krassen Widerspruch zu den Erinnerungen der anderen. «Ist S. eine derart wichtige Person, dass man sein Leben unbedingt beschreiben muss?» Die Frage des Staatsanwalts, der die Todesstrafe beantragt hatte, entlarvt das tief sitzende Klassendenken.
Richard Dindo ist dieses Jahr achtzig Jahre alt geworden. Seine «Enquête», das Verfahren, mit dem er bekannt wurde, hatte er damals, inspiriert von Meienbergs Methoden, entwickelt. Es involviert die Zuschauer:innen in den Rechercheprozess und überlässt es ihnen, welche Schlüsse sie daraus ziehen, wobei meist – wie im Fall von Ernst S. – nur ein Schluss naheliegt. Prompt unterstellten bürgerliche Kreise dem Film manipulative, ideologische Tendenzen. Der Bundesrat verweigerte ihm die Qualitätsprämie, die die zuständige Expertenkommission davor fast einstimmig empfohlen hatte. Die Kontroverse weitete sich aus, man stritt sich nun auch um Klassenfragen in der Filmpolitik.
Schrämlis Seelenleben
Ideologie sei «wie Mundgeruch: immer das, was die anderen haben», hat der marxistische Theoretiker Terry Eagleton einmal treffend formuliert. Die Argumente, mit denen allen voran der Bundesrat damals «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» kritisierte – nachzulesen auf Dindos Website –, erinnern stark an diesen Satz.
Für die fiktionale Neubearbeitung des Stoffs, die jetzt ins Kino kommt, standen die Aktenschränke von Anfang an offen. Regisseur Michael Krummenacher («Heimatland») stiess auf reihenweise Briefe, die ihm «Einblick in Ernsts Seelenleben» gaben, wie er in einem Interview berichtet. Auf dieses «Seelenleben» konzentriert sich Krummenachers Film «Landesverräter». Ernst S. bekommt hier seinen vollen Namen zurück – Schrämli – und das Gesicht von Schauspieler Dimitri Krebs.
«Ernstli» trifft sich mit Gerti (Luna Wedler) im Sittertobel, was ihm später als «Schändungsversuch» angekreidet wird, und träumt von einer grossen Karriere als Sänger, die ihm ein verführerisch weltgewandter Mitarbeiter des deutschen Konsulats (Fabian Hinrichs) verspricht. Dieser stiftet ihn zum Spitzeln an und würde ihn gerne auch ins Bett kriegen, während Vormund Graf (Stefan Gubser) vergeblich versucht, ein anständiges Mannsbild aus seinem Mündel zu machen.
Krummenacher erzählt nah an den Quellen mit viel Produktionsbombast und eindringlichen Bildern, die dem Ernstli aus der Seele zittern (Kamera: Michael Saxer). Auch kleine Gesangseinlagen sind dabei: Über den ganzen Film verteilt dürfen alle mal ihr Leid in die Kamera summen, vermutlich, um uns daran zu erinnern, dass ihr Elend uns auch heute noch irgendwie betrifft. Nur wie?
Krummenacher merkt zu Recht an, dass man das damals erprobte «Handlungsmuster» der Schweiz – Stichwort «Neutralität und Geschäfte» – zurzeit wieder im Umgang mit Russland beobachten könne. Und ein bisschen Erinnerungspopkultur für ein kritischeres nationales Selbstbild kann sowieso nie schaden. Ein Klassenbewusstsein wie bei seinem Vorgänger sucht man bei «Landesverräter» jedoch vergebens. Der begabte Prolet, das geschwängerte Gerti, der schwule Nazi, der autoritäre Vormund: Die sozialen Hierarchien der Beteiligten, von Meienberg und Dindo bewusst ignoriert, kehren hier als Klischees zurück. Das Ernstli wird nicht recht ernst genommen, alles bleibt Oberfläche, Schablone und Kulisse. Daran kann auch die beeindruckende Besetzung nichts ändern.
Kein nostalgisches Glänzen
Unter die Haut geht dafür «In Liebe, Eure Hilde», der neue Film von Andreas Dresen über eine «Landesverräterin» unter politisch entgegengesetzten Vorzeichen. Hilde Coppi war mit ihrem Mann Hans in einem Berliner Freundes- und Widerstandskreis gegen Hitler aktiv. Die Gestapo zählte die Gruppe zur «Roten Kapelle», so der Fahndungsname für ein europäisches Spionagenetzwerk, das sich später als Fantasie der Gestapo herausstellte. Im September 1942 – Hilde war hochschwanger – wurde das Ehepaar verhaftet und nacheinander im Abstand von mehreren Monaten hingerichtet.
Der Film zeigt Hildes (Liv Lisa Fries) Geschichte in zwei Richtungen: Ihre Zeit im Gefängnis mit ihrem dort geborenen Sohn verläuft vorwärts, die Vorgeschichte hingegen wird rückwärts erzählt, angefangen bei der Verhaftung des ersten Mitglieds der Gruppe über deren vorangegangene Aktionen und Ausflüge zurück bis zu Hildes erster Begegnung mit Hans (Johannes Hegemann). Ein genialer Einfall (Drehbuch: Laila Stieler), weil so Glück und Unglück ineinander übergehen und ihr Kontrast deutlich macht, welche Art von Widerstand dem Film wichtig ist: nicht die grossen Taten und Parolen, sondern die leisen, scheinbar kleinen Gesten des Mitgefühls, der Verbundenheit und ja, Liebe.
Entsprechend leise und zurückhaltend ist «In Liebe, Eure Hilde» inszeniert. Kein nostalgisches Glänzen (Kamera: Judith Kaufmann), kein heroischer Wendepunkt, kaum Musik: Alles wirkt roh, alltäglich, widersprüchlich und deshalb umso erschütternder. Wie Dindos Enquête nimmt sich das Drama jede Menge Zeit, um uns seine heute wieder sehr brauchbare «Wahrheit» fühlen zu lassen: Widerstand ohne Anstand ist kein Widerstand.
Wer das für gefühlig, naiv oder konservativ hält, sollte bei Gelegenheit den eigenen Mundgeruch prüfen.
«In Liebe, Eure Hilde» läuft jetzt im Kino, «Landesverräter» ab 24. Oktober 2024.
«Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» ist ab 20. Oktober 2024 bei Filmingo im Stream erhältlich. Im Kinok in St. Gallen ist der Film derzeit im Rahmen einer Richard-Dindo-Retrospektive zu sehen, am Di, 29. Oktober 2024, in Anwesenheit des Regisseurs.