«Foudre»: Das Evangelium der Lust
Was diese Mystikerin treibt, stört die Ordnung: In ihrem sinnlichen Erstling «Foudre» feiert Carmen Jaquier das Begehren einer Frau in gottesfürchtiger Bergwelt.
Was ist denn das für eine Erscheinung im Stall? «Das ist die Jungfrau Maria», flüstert eine der beiden Schwestern, als sie dies schöne Wesen im Stroh erblicken. Nein, entgegnet die andere, das sei der Teufel.
Beides nicht richtig, beides nicht ganz falsch. Die unheilige Heilige ist ihre grosse Schwester Elisabeth (Lilith Grasmug), die einst ins Kloster geschickt wurde, als die beiden jüngeren noch ganz klein waren. Jetzt, mit siebzehn Jahren, ist Elisabeth zurück auf dem Hof ihrer Eltern in den Walliser Bergen, wo sie nach dem Tod der ältesten Schwester deren Platz einnehmen soll. Im Kloster hat sie sich noch mit Händen und Füssen gegen die verordnete Heimkehr gestemmt, die Nonnen mussten sie auf ihren Schultern aus den heiligen Mauern tragen, als ob Elisabeth der Erlöser am Kreuz wäre. Aber wie ist eigentlich ihre ältere Schwester gestorben? Der Teufel habe seine kleine Magd zurückgeholt, erzählt ihr die Kleinste einmal, so, wie das die Erwachsenen ihr wohl vorgebetet haben.
Die grosse Angst in den Bergen, sie gilt eben oft auch: der Lust. Es ist ein Topos, den das Schweizer Kino immer wieder neu beleuchtet hat, auf einer Skala zwischen der zarten Härte in Fredi Murers «Höhenfeuer» und dem plakativen Horror eines «Sennentuntschi». Carmen Jaquier ist definitiv näher bei Ersterem, wenn sie in ihrem ersten langen Spielfilm «Foudre» das erwachende Begehren einer jungen Frau in gottesfürchtiger Bergwelt feiert. Gleich mit dem ersten Schnitt im Film erzählt sie ohne Worte vom disziplinarischen Regime, dem der weibliche Körper hier unterworfen ist. Später treibt «Foudre» immer fiebriger einer Entfesselung der Sinne, also auch des Körpers, entgegen.
Was strahlt in göttlichem Licht?
Diese Entfesselung setzt damit ein, dass Elisabeth ein geheimes Tagebuch ihrer verstorbenen Schwester entdeckt, eingenäht im Saum eines Kleids. Sie empfängt dieses Heft wie eine Offenbarung, als Evangelium der Lust. Aber Elisabeth erfährt die Entgrenzung, der sie sich zusehends hingibt, nicht etwa als Widerspruch zu ihrer Frömmigkeit, im Gegenteil. Die Schöpfung, die Natur, also auch der Sex: Das alles ist hier eine Funktion des Göttlichen. Der Körper ist für Elisabeth das Medium ihrer Gotteserfahrung, im Gefolge ihrer älteren Schwester wird sie so zur polyamoren Mystikerin: «Gott ist eine Schwingung», liest sie einmal im Tagebuch. «Gott ist der Ort meiner Lust.»
Sinnbildlich für diese mystische Einheit steht ein kleines Requisit, das Elisabeth im Film wie einen Talisman hütet – eine Devotionalie, die sie einst wohl zusammen mit der älteren Schwester in einem Schatzkästchen verstaut hatte. Sie habe lange nach einem geeigneten Motiv gesucht, antwortet Regisseurin Carmen Jaquier auf die Frage nach diesem Andachtsbild: eine Reproduktion von «Christus im Grab, bewacht von Engeln» (1805), einem Gemälde von William Blake. Der aufgebahrte Christus, über ihm zwei schwebende Engel zu beiden Seiten, aber im Film ist das kaum zu erkennen. Für einen unverfänglichen Blick sehen die beiden Engel vielleicht aus wie zwei Hände, zum Gebet gefaltet. Aber in dem Resonanzraum, den dieser Film aufspannt, drängen sich andere Assoziationen in den Vordergrund. Was strahlt hier in so göttlichem Licht, ist das – eine Vulva?
Die Kinder des Teufels
«Foudre» spielt im Jahr 1900, aber die Konventionen des Kostümdramas sind hier nie eng geschnürt. Carmen Jaquier hat im Binntal gedreht, dem Film stellt sie eine Reihe von historischen Fotografien voran – doch ihr Blick ist dezidiert modern, nicht historisierend. Man spürt das schon in den Farben, oft leicht übersteuert und unwirklich leuchtend, und auch in der verblüffend heterogenen Musik von Nicolas Rabaeus, der dafür zu Recht mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet wurde. Ein paar verlorene Klavierakkorde, von fern ziehen diffuse Störklänge auf, wie von verfremdeten Kirchenglocken; psychedelische Elektronik, wenn die Bilder bei Elisabeths naturmystischen Streifzügen ins Flackern kommen; oder auch ein Gesang zu Ehren der Mutter Gottes, aber so zart von Männerstimmen gesungen, dass dem Choral fast etwas Postkoitales anhaftet.
Die Berggemeinde, die sich von Elisabeths Treiben bedroht sieht, bleibt im Film nur angedeutet am Rand. Das Gesetz verkörpert der Pfarrer, der auch bestimmt, für wen überhaupt gebetet werden darf (sicher nicht für diejenigen, die er als Kinder des Teufels betrachtet). Elisabeths Vater predigt Gehorsam, die Mutter wirkt vor allem verhärmt. Zur Triebabfuhr müssen zwar keine Steinmauern gebaut werden wie einst in «Höhenfeuer», dafür gibt es ominöse Mysterienspiele, mit klar verteilten Geschlechterrollen.
Eine Frau wie Elisabeth ist da natürlich der leibhaftige Frevel: nicht nur, weil sie ihrem Begehren folgt, sondern weil sie das auch noch als Ausdruck von Frömmigkeit versteht, als Weg zur Vereinigung mit Gott – und weil sie diese Ekstase noch dazu mit drei jungen Burschen teilt. Das patriarchale Regime, daran lässt der Film keinen Zweifel, knechtet die Männer letztlich ja genauso wie die Frauen. Gegen diese Ordnung entwickelt Jaquiers Film eine ungemein sinnliche und sehr heutige Utopie von einer befreiten Sexualität – irgendwie queer, stets auch gefährdet.
«Foudre». Regie und Drehbuch: Carmen Jaquier. Schweiz 2022. Jetzt im Kino. Soundtrack erhältlich auf nicolasrabaeus.bandcamp.com.