Licht im Tunnel: Einfaches Loblied
Michelle Steinbeck schunkelt sich aus der Starre

Ich bereue grundsätzlich selten, aber etwas ist wirklich schade: dass ich Christiane Rösinger und ihre Bands nicht schon früher kannte. Wie hätte mein Teenieleben aussehen können, hätte es eine wie Rösinger als Role Model gegeben! Immerhin ein halbes Leben später gelangt sie dank Stefanie Sargnagels aktuellem Buch «Iowa» in mein Bewusstsein – und tritt kurz darauf in meiner Stadt auf.
Fast hätte ich es verpasst, denn wie Rösinger gerade dem Literaturhaus-Publikum treffend erklärt, als ich mich in den vollen Saal ducke, arbeiten freie Kreative viel mehr als Leute mit Festanstellungen und verdienen dabei noch weniger. Die lotterlebige Kulturproduktion zu flexiblen Arbeitszeiten lässt uns normalerweise keine Zeit, um die Bühne von unten zu betrachten. Aber nach einem Tag, der mich lustlos kaut und mahlt und schliesslich angewidert ausspuckt mit der Erkenntnis, dass ich gerade rein gar nichts Sinnvolles, Erhebendes oder zumindest Schockierendes zu sagen habe zum desolaten Zustand unserer Erdengemeinschaft, nach einem solchen Tag gibt es nichts Besseres, als den Weisheiten von einer zuzuhören, die schon alles erlebt hat: «Den Markt bedienen / ohne was zu verdienen / Sich selber ausbeuten / und das auch noch mit Freuden / Nach all den Jahren / ist es so weit / ich sing das Loblied der stumpfen Arbeit».
Ja, murmle ich, ich will auch Socken stopfen statt weiter erfolglos versuchen, geistreich-prickelnde Erfrischungsgedanken aus der abgestandenen Heizungsluft zu klauben. Wie gesellschaftsuntauglich mich das schon gemacht hat, wird mir peinlich bewusst, als ich mich im Publikum umsehe. Klar, es ist Lyrikfestival, und da sitzen sie alle: befreundete Dichter:innen aus dem In- und Ausland, scheinwerferlichtwürdig frisiert-geschminkt-gebügelt, während mein zerraufter Kopf unter der Kapuze des seit Tagen gleichen, zu grossen, darum besonders bequemen Muhammad-Ali-Trainers verschwinden will. Wenn sich eine von ihnen strahlend an mir und meinem Treppenplatz vorbeidrückt und sich ihre wohlriechende Wolke von Parfüm in meinem Dunstkreis irritiert verheddert, muss ich zugeben, dass ich es mit der Authentizität der leidenden Autorin übertrieben habe. Gleichzeitig fühle ich mich seltsam verbunden mit Rösingers Stimme und schunkle zufrieden mit: «Die Welt ist halt ein arges Jammertal / und alles, was du tust, ist letztendlich ganz egal. / Alles ist vergebens. / Es macht alles keinen Sinn. / Da kann man gar nicht mehr auf sein. / Da legt man sich gleich lieber hin.»
Ja, nicke ich, es braucht gar nicht immer tapfere Worte, tiefschürfende Erkenntnisse und unerhörte Breaking News. Die Poesie des vermeintlich Banalen, hier in Form von fast schmerzhaft schönen Liedern über lähmende Zustände in kapitalistisch-patriarchalen Zwängen, ist mindestens so unterhalt- und vor allem heilsam. So rettete mich dieses Konzert, indem es mir den Titel dieser Kolumne bestätigt: Es war buchstäblich ein Licht im Tunnel. Keine Erleuchtung, kein Sprengsatz, nein, es geht weiter wie zuvor.
Aber zumindest kann ich nun Christiane Rösinger aufdrehen und tanzen: «Depressiver Tag, ich sag Hallo-oh-oh-oh-oh / Zeig mir dein schäbiges Gesicht / Depressiver Tag, du machst mich froh-oh-oh-oh-oh / Komm und enttäusche mich nicht / Depressiver Tag, denn auch du-uh-uh-uh-uh / bist nur 24 Stunden lang.»
Michelle Steinbeck ist Autorin. Sie trägt mittlerweile einen anderen Trainingsanzug und hört weiter Christiane Rösinger.