Massenproteste in Serbien: «Er ist am Ende!»
300 000 Menschen demonstrieren friedlich gegen das korrupte System von Aleksandar Vučić. Unterwegs in Belgrad an einem historischen Samstag.

Auf der Autokomanda setzt sich am Samstagmittag ein riesiger Protestzug in Bewegung. Der Verkehrsknotenpunkt ist nur einer von vielen Orten, von wo aus Menschen ins Zentrum Belgrads ziehen. Allen hier ist bereits klar: Das wird der grösste Protest in Serbien seit dem Sturz von Gewaltherrscher Slobodan Milošević im Oktober 2000 – wenn nicht sogar grösser. Längst nicht nur Student:innen sind gekommen: Die Demonstration zeigt einen Querschnitt durch die ganze Gesellschaft.
Die Stimmung ist ausgelassen, friedlich und feierlich. «Wer nicht springt, ist ein Ćaci», singen Student:innen. «Ćaci sind Leute, die sich als Studenten ausgeben und Ansichten vertreten, die sich gegen unsere Interessen richten», erklärt eine junge Frau. Die Proteste sind dezentral organisiert. Während an einigen Orten gesungen wird, setzen an anderen Performances politische Zeichen. Rot eingefärbte Hände symbolisieren die Verbrechen der korrupten Regierung.
Vom Dorf in die Stadt
Zwischen Präsidentensitz und Parlament liegt «Ćacilend» – eine Zeltstadt im Pionirski Park. Laut regierungsnahen Medien wurde sie von Student:innen erstellt, die wieder ihre Lehrveranstaltungen besuchen möchten, um Prüfungen abzulegen. Tatsächlich stehen hier jedoch teils maskierte Männer, die vom Regime bezahlt werden. Unter ihnen Veteranen der «Roten Barette»: einer Einheit, die für Kriegsverbrechen und Exekutionen verantwortlich war. Ćacilend ist eine Drohkulisse, mit der das Regime von Präsident Aleksandar Vučić versucht, die Proteste zu bremsen. Im Vorfeld hatte Vučić vor der Gewalt gewarnt, die angeblich von der Opposition ausgehe.
Auch wurde versucht, die Anreise der Protestierenden zu verhindern: Seit Freitagmorgen ruht der Zugverkehr – offiziell wegen einer Bombendrohung. Viele kommen trotzdem von weit her, manche auch zu Fuss oder mit dem Velo. Am Vorabend der Demonstration werden sie auf der Terazije, dem Hauptplatz der Stadt, von Zehntausenden feierlich empfangen. Sogar ein roter Teppich ist ausgerollt. Manche sind vier Tage lange marschiert.
Diese Märsche sind auch eine Strategie, um die Menschen in den Dörfern zu erreichen, die nur regierungsnahe Radio- und TV-Sender konsumieren. So soll sichtbar gemacht werden, dass diese Medien Lügen verbreiten, dass die Forderungen der Protestierenden berechtigt sind, ihre Mittel friedlich. Die Strapazen, die sie auf sich nehmen, sind enorm. Einige müssen nach der Ankunft an der Terazije direkt ins Zelt des Roten Kreuzes, um Blasen versorgen zu lassen.
Die heutige Massenkundgebung soll zum Höhepunkt nach vier Monaten des Protests werden, der nach dem Einsturz des Bahnhofsvordachs in Novi Sad mit fünfzehn Todesopfern Anfang November begonnen hat. Zuerst wurden fast alle Fakultäten im Land besetzt. Viele dachten, den Student:innen werde bald die Puste ausgehen, Vučić könne die Proteste aussitzen. Aber es wurden immer mehr Menschen, die sich beteiligen. An diesem Samstag werden rund 300 000 Teilnehmer:innen gezählt.
Eine letzte Anspannung
Um 18 Uhr erreicht die Kundgebung ihren Höhepunkt an der Slavija, einem zentralen Platz. Ein Blockadechor singt das Student:innenlied «Gaudeamus igitur» (Lasst uns also fröhlich sein), aber auch «Ovo je zemlja za nas» (Das ist das Land für uns) der legendären Belgrader Rockband EKV. In der einbrechenden Nacht halten die Menschen ihre leuchtenden Handys in die Luft. Um 19 Uhr stehen fünfzehn Schweigeminuten für die Opfer von Novi Sad an. Beeindruckend, wie still Hunderttausende sein können, wenn sie gemeinsam schweigen.
Dann, um 19.11 Uhr, passiert es: Plötzlich rennen Menschen los. Sie flüchten in Seitengassen, suchen Schutz in Hauseingängen. Erste Berichte sprechen vom Einsatz einer Schallkanone durch die Polizei – einer Waffe, die Menschen mit hochfrequenten Tönen in Panik versetzen kann. Hunderte Zeug:innen berichten von einem lauten Knall und einem Gefühl von aufkommender Panik. Nach dem Vorfall berichten viele von Benommenheit und Schlafstörungen.
Alle spüren, dass etwas passiert ist. Im Moment versteht nur niemand, was genau. Als kurz darauf Steine und Flaschen aus Ćacilend auf friedliche Demonstrierende fliegen, treffen die Student:innen eine umstrittene Entscheidung: Sie lösen den Protest für den Tag auf. «Das ist kein studentischer Protest mehr», erklären sie auf ihren Kanälen. Viele Teilnehmer:innen sind über den Entscheid enttäuscht.
Aleksandar Vučić wird es später als Lüge bezeichnen, dass eine Schallkanone eingesetzt worden sei. Alle, die etwas anderes behaupteten, würden «für solche Erfindungen und Lügen der Justiz übergeben», droht der Autokrat.
Nach der Auflösung des Protestzugs kommt es zu einem letzten angespannten Moment vor der Rechtsfakultät. Eine Reihe von Polizisten in Anti-Riot-Ausrüstung stehen dort, gepanzerte Fahrzeuge fahren auf. Ein paar Dutzend Demonstrierende stellen sich davor, skandieren: «Verhaftet Vučić!» Die Eskalation scheint unvermeidbar. Plötzlich zieht die Polizei ab – kein Schlagstockeinsatz, keine Gewalt. Die Menge applaudiert und ruft: «Gotov je!» – Er ist am Ende! Allen ist klar, wer gemeint ist.
Isidora, eine der Student:innen, die sich mit Polizisten ein Blickduell geliefert hat, sagt: «Wir fragten sie, warum sie hier sind, denn niemand wusste es. Sie haben uns angesehen, wir haben sie angesehen. Eine halbe Stunde lang.» Dann sei die Polizei einfach abgezogen.
Was folgt nun auf die riesigen Proteste? Isidora zögert nicht und sagt mit einem Lächeln: «Es gibt kein Aufgeben. Wir pumpen weiter.» So wollen sie Druck erzeugen, bis das System der Korruption platzt.