Von oben herab: Jesus muss sich schämen

Nr. 5 –

Stefan Gärtner über Mitten

Man soll auch nicht immer mit der Technifizierung hadern, denn ohne sie hätte es sehr viel länger gedauert als die zehn Sekunden, bis mir die Volltextsuche verraten hat, wann ich zuletzt etwas über die CVP geschrieben habe. Es war in der WOZ vom 16. Januar 2020, als die Christliche Volkspartei, unterwegs zur Fusion mit der BDP, auf der Suche nach einem neuen Namen war: «‹Die Moderaten› ist übrigens keiner der üblich öden Schweiz-Witze aus der Tastatur des bequemen deutschen Kolumnisten, sondern die reine Wahrheit: ‹Die Moderaten›, nein, schweizerischer geht es nicht; mögliche Slogans: ‹Alles kann, nichts muss›, ‹Nichts überstürzen› oder ‹Mal sehn, oddr›.» In den fünf Jahren seither ist «Die Mitte», wie sie sich dann nannte, bei mir nicht mehr aufgetaucht, und man kann finden, das sage alles.

Es wird nicht so sein, dass sie sich jetzt ärgern, den falschen Parteinamen gewählt zu haben, denn moderat ist Politik heute genauso wenig, wie sie mittig ist, jedenfalls dann nicht, wenn wir die Mitte als Überzeugungsort begreifen, im Sinne von Bernd Begemann: «Gemässigt ist das neue Radikal.» Denn für die Mitte des Volkes zu sprechen, das reklamieren grundsätzlich alle Parteien für sich, vom Freisinn und von der deutschen FDP einmal abgesehen, die allein den asozialen Rand ansprechen.

«Die Mitte», ideologisch betrachtet, ist bürgerliche Sozialdemokratie, und da es in der Politik auch eine rechte Mitte gibt und die Mitte einer Christlichen Volkspartei eine andere ist als die einer sozialdemokratischen, gab der Parteipräsident der «Mitte», Gerhard Pfister, «einen konservativen Kurs mit sozialem Anstrich» (WOZ, 23. Januar 2025) vor, also etwa den «compassionate conservatism» der US-Republikaner, als sie noch keine Kriminellen waren. Pfister will jetzt hinwerfen, und den Bundesratsposten von Viola Amherd, die ebenfalls hinwirft, will er auch nicht mehr, und ab da wird es für uns, die wir ja immer die grossen Linien verfolgen, uninteressant.

Interessant ist nämlich viel eher, warum «die Partei, die als Mehrheitsbeschafferin eigentlich eine mächtige Position innehätte, oft ohnmächtig» wirkt (WOZ a. a. O.), interessant zumal für den deutschen Beobachter, der in vier Wochen eine Bundestagswahl zu bestehen hat, in der die Mitte ohnmächtig wirkt. Denn Bundeskanzler wird ein christlicher Demokrat werden, der zwar offiziell mit der AfD nichts zu tun haben will, aber in Sachen Migration genauso bösartig daherredet: Grenzen zu, Asylrecht aussetzen, und wenn die geneigte «Bild»-Zeitung dazu titelt: «SPD-Wähler stellen sich hinter Merz!», dann ist das nur zur Hälfte Propaganda, nachdem im bayerischen Aschaffenburg ein junger Afghane einen Mann und ein Kind erstochen hat. Da will man Taten sehen, und weist der liberale Leitartikel noch so beflissen darauf hin, dass junge Afghanen, die man jahrelang beschäftigungslos in Notunterkünften vegetieren lässt, vielleicht häufiger durchdrehen als andere: Wichtig ist, unsere Frauen und Mädchen vor den Asylantenhorden zu schützen, weshalb die, die die Mitte zu vertreten vorgeben, vom «Notstand» (Merz) kläffen.

Die Mitte ist als solche aber nicht der Notstand, und wer diese Art der Mitte wählt, will sie verlassen. Das wollen leider viele, und es ist nicht ohne Ironie, dass der ausdrückliche Bezug aufs christliche Abendland, den die Schweizer «Mitte» im Zukunftstaumel abgelegt hat, hier helfen könnte, jedenfalls dann, wenn man es nicht so schamlos verrät wie der kommende deutsche Kanzler. Eine Volkspartei, die aus Leuten bestünde, die sich so benähmen, dass Jesus sich nicht schämen muss, würde ich hundertmal eher wählen als die Einpeitscher der sogenannten Mitte, und so reaktionär der mitfühlende Konservatismus gewesen sein mag – um wie vieles besser ist er als der, der sich vom Faschismus nicht mehr unterscheiden will.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.