Ausstellungen: Unheimliche Heimat

Nr. 6 –

Was, wenn Zuhause gar kein Ort ist, sondern ein Cola-Raketeneis? Oder ein grossäugiges Schaf im dunklen Stall? Zwei Künstler:innen auf der Suche nach Herkunft.

Bild aus der fotografischen Serie «The Dispossessed» von Cansu Yıldıran: eine Frau steht in einer Plantage mit Bohnenstauden
Zwischen Bohnenstauden, aber ohne Aussicht, hier selbst Wurzeln schlagen zu können: Aus der Serie «The Dispossessed» (2015–2024) von Cansu Yıldıran.

Mitten im Raum: ein Birnbaum. Ein Sturm mag ihn umgeworfen haben. Jetzt liegt er hier, in der Kulturstiftung Basel H. Geiger, auf dem Boden. Man darf sich draufsetzen, die Rinde fühlt sich kalt an. Kupfer! Der Strunk ist, oder war, der Lieblingsbaum von Sandra Knecht.

Da ist auch ein altes Bienenhaus, das die Künstlerin im Berner Oberland entdeckte, überwuchert von Brombeergestrüpp. Es erinnerte sie an ihr Kindheitsdorf. Nun steht es, als Verweis auf ein Gefühl, neben dem hohlen Abguss des Birnbaums. Zwei Dinge, die ihren ursprünglichen Zweck verloren haben und nun als Gefässe an Vergangenes gemahnen. «Home Is a Foreign Place» heisst die Ausstellung, die Heimat als fremder Ort: Sandra Knecht, die Sammlerin, breitet ihr Archiv als Vanitas-Stillleben aus.

Unklar, wie viel das mit Nostalgie zu tun hat, ob die leise Wehmut bloss Projektion ist. Knecht erkundet ihre eigene Herkunft radikal subjektiv und für Aussenstehende oft unentzifferbar. Was wiederum Raum für die Frage lässt: Was bedeutet denn Heimat für mich?

Vertraute Geschmäcker

Aufgewachsen, erzählt Knecht, sei sie als queeres Kind in einem Bauernkaff, mit einer Mutter, die über Bhagwan zu den Anthroposophen gefunden hatte. Woran hält man sich da fest? An Büchern, an Musik. Kate Bush, Patti Smith, Nina Hagen waren damals ihre Retterinnen. Ihnen und anderen feministischen Künstler:innen, die ihr wichtig sind, widmet Knecht Geschmacksprofile, die sie im Rahmen der Ausstellung für Freund:innen nachkochen wird. Weisse Schokolade und Cola-Raketeneis für Kate Bush, Sauerteigbrot mit Alpenbutter für Patti Smith. Oder Virginie Despentes: Roadkill-Rehwurst und Bier.

Die Roadkill-Rehwurst servierte Knecht einst auch im «Chnächt» am Basler Hafen, in einer alten Scheune, ein Fundstück wie das Bienenhaus, nur diesmal aus dem Jura an den Rhein transportiert. Ein Stück Vertrautheit an «diesem Unort», wie Knecht den Hafen nennt. Und Vertrautes – das ist eine Erkenntnis aus Knechts früherem Leben als Sozialpädagogin – ist Heimat. Damals lernte sie von den Müttern geflüchteter Jugendlicher, wie man Börek zubereitet oder Fesendschān, geschmortes Hähnchen mit Granatapfelsirup und gemahlenen Walnüssen. Indem sie mit den Müttern kochte, fand sie Zugang zu den Söhnen. In Basel stehen Knechts «Heimatgläser», die 2017 auch an der Biennale in Venedig zu sehen waren: eingelegte Tannzapfen, Bärlauchknospen, Flechten und hundert rätselhafte Dinge – eine geschmackliche Kartografie der Schweiz.

Heute lebt Knecht im Baselbiet in einem alten Bauernhaus. Dass sie dort gelandet ist, sei dem Zufall geschuldet, beziehungsweise dem Onlinemarktplatz «Immoscout», wo ihre Partnerin das Haus vor ein paar Jahren entdeckt hat. Im Dorf werden die beiden bisweilen noch immer als «Scheisshomos» angegangen. Knecht kann damit gut leben, seit sie den Ort mit dem Ausstellungs- und Buchprojekt «Babel» zur sozialen Plastik erklärt hat (WOZ Nr. 42/21). Damals dokumentierte sie eine Auseinandersetzung um ein Stück Land – und realisierte, dass man ohne Landbesitz auf dem Land niemand ist. Als Knecht 2022 den Swiss Art Award erhielt, kaufte sie mit dem Preisgeld einen alten Rebberg. Seither ist sie im Dorf angekommen.

Wenn Zugehörigkeit an den Besitz von Land geknüpft ist, bleibt Cansu Yıldıran der eigenen Herkunft ewig fremd. «The Dispossessed», die Enteigneten, heisst eine von Yıldırans Fotoserien, die in der «Coalmine» in Winterthur zu sehen sind. In der Schwarzmeerregion, wo Yıldırans Mutter aufwuchs, werden Land- und Nutzungsrechte unter Männern weitergegeben. Zu Beginn jedes Sommers ziehen sie mit ihren Familien in die Hochebenen, um ihre Tiere zu weiden. Yıldırans Grossmutter schnitt der Mutter dann immer das Haar. «Es wird nachwachsen», sagte sie dabei zum Kind. «Die Wurzeln gehören dir.»

Ein alter Schutzzauber

In den Fotografien kommt eine ambivalente Sehnsucht nach diesem Ort zum Ausdruck, den Yıldıran nur aus den Ferien kennt. Da sind die Sandstrohblumen, deren herber Geruch allgegenwärtig sein muss. Yıldıran fotografiert sie aus der Erde wachsend und in den blauen Plastiksäcken, in die die Frauen sie legen, die hier ihren Alltag leben, sich widerständig mit dem Land verschwestern, das ihnen nicht gehört. Allgegenwärtig ist auch das Haar der Mutter, rot leuchtend zwischen wuchernden Bohnenstauden, in ein blaues Tuch geschlungen, flatternd im Wind. Sie verliess ihre Heimat als junge Frau, um in der Stadt zu studieren. Wie kann man Wurzeln schlagen an einem Ort, der einem das Recht auf Zugehörigkeit verwehrt? Auch die Mutter kehrt in den Sommern als Gästin zurück.

Yıldırans Kritik an den patriarchalen Bräuchen ist subtil. Leise schwingt sie mit in der unheimlich-folkloristischen Stimmung der Bilder: Gestrüpp in grobem Korn, dazwischen Nebelschwaden; trockenes Gras, in dem sich Fellbüschel verfangen haben; ein Schaf im dunklen Stall, dem die Augäpfel aus dem Gesicht hervortreten; und überall Frauen, die geisterhaft in der Landschaft erscheinen, bewaffnet, betend. «The Dispossessed» erinnert an die Sagenwelt der Schweizer Alpen, wo Drachen und ziegenfüssige Bergfeen das Hochgebirge bevölkern.

Sandra Knecht wirft in Basel die Frage auf, ob eine Zürcherin einer Städterin aus Istanbul nicht näher sei als einer Person aus dem Schächental; und ob eine Schächentalerin wiederum mit jemandem aus Anatolien mehr gemeinsam habe als mit einer Person, die in der Stadt zu Hause ist. Auf Fotografien inszeniert sie sich als wildes Biest in einer Maske aus Appenzell; in der Galerie liegt, auf eines ihrer Shirts gebettet, eine mumifizierte Katze, aus ihrem Brustkorb ragt etwas Stroh. Sie habe das Tier gefunden, sagt Knecht, als sie in ihrem Bauernhaus eine Wand aufbrach. In den katholischen Gegenden der Deutschschweiz finden sich solche Mumien zuweilen in Zwischenböden oder auf Dachstühlen. Sauerstoffarme Räume, wo die Körper austrockneten, statt zu verwesen. Ein alter Schutzzauber.

Wieso hat Brauchtum etwas Düsteres? Weil es etwas ist, das es zu bewahren gilt, also immer etwas von der Vergänglichkeit Markiertes? Oder ist das wieder der fremde Blick einer von Traditionen und Brauchtümern weit entfernten Städterin? Knecht jedenfalls hat keine Berührungsängste mit dem Tod. Wenn eines ihrer Tiere stirbt, kocht sie es; der Birnbaum wird gerade verfeuert.

Brüchige Heimaten

In «Shelter» porträtiert Yıldıran die Transcommunity Istanbuls, die eigene Wahlfamilie – städtische Lebenswelten von widerständiger Lebendigkeit. Zwei in Drag, ein:e malt sich die Lider blau, ihr Gegenüber, mit Zigarette, wirft ausgelassen lachend den Kopf zurück. Umschlungene Körper, ein abgehärmtes Gesicht, die Mundwinkel tief umfurcht. In ihrer ungeschönten Nähe erinnern die Bilder an Nan Goldin (Nan Goldin – Geschmacksprofil: ein Würfelzucker, zwanzig Tropfen Bitterschnaps – ist auch prägend für Sandra Knecht). In Winterthur ist «Shelter» in einem in die Ausstellungshalle verschachtelten Raum zu sehen, dessen Wände leuchtend rot gestrichen sind. Das hat etwas Rohes, Verletzliches; hier wird etwas Inneres nach aussen gekehrt.

Yıldırans Safe Spaces sind brüchige, bedrohte Heimaten. Die Künstler:in gehört zu einer Generation, die unter Recep Tayyip Erdoğans zunehmend autoritärem Regime gross wurde. In einer Gesellschaft, die die Rechte von Frauen, queeren Menschen und anderen Minderheiten beschneidet, funktioniert Zugehörigkeit für beide Seiten durch Abgrenzung. Gleichzeitig erlaubt die Fotografie Yıldıran, sich immer neu in Beziehungen zu deren Subjekten zu setzen und so die eigene Queerness zu erkunden, ohne sich auf eine Identität festlegen zu müssen. Damit Heimat nicht zum Albtraum wird, muss sie fluide bleiben, biegsam; nicht an einem starren Wir festgemacht, das um sich herum eine Grenze zieht. Ein Nichtort, «a foreign place», wie bei Sandra Knecht.

Sandra Knecht: «Home Is a Foreign Place», in: Basel, Kulturstiftung H. Geiger, bis 27. April 2025. www.kbhg.ch

Cansu Yıldıran: «What Remains», in: Winterthur, Coalmine, bis 9. März 2025. www.coalmine.ch