Sachbuch: Wenn der Staat beim Gift wegschaut
Die Historikerin Claudia Aufdermauer folgt den Spuren giftiger Chemikalien in der Industrialisierung der Schweiz. Was daraus zu lernen wäre: Wir sollten Probleme endlich nicht mehr in die Zukunft verlagern.
Eigentlich ist die Feststellung banal: Nicht abbaubare Abfälle sind in der Natur nicht vorgesehen. Und es ist auch nicht so, dass wir das erst begreifen würden, seit sich Mikroplastik und Ewigkeitschemikalien wie PFAS in der Antarktis und den Organen von Pinguinen nachweisen lassen. Wie löchrig die Geschichte der Industrialisierung als Fortschrittserzählung geworden ist, zeigt die Historikerin Claudia Aufdermauer, indem sie in historischen Quellen «dem Weg des Giftes» folgt und dabei vom Berner Oberland über das Wallis bis zum Rheinknie in Basel blickt, dem Nabel der chemischen Industrie in der Schweiz. Im Fokus hat sie dabei häufig verwendete Chemikalien wie Arsen, Quecksilber, Blei, Chlor, Fluor oder gelben Phosphor.
Auf ihrer Spurensuche stösst sie immer wieder auf Behörden, die wegschauten, abwiegelten und untätig blieben – und auf ein Muster, das sich bis heute durchzieht: Stets werden wirtschaftliche Interessen höher gewichtet als Gesundheit oder Umwelt. Bis hin zum Punkt, an dem die Historikerin nur noch ein Wort dafür findet: «Staatsversagen».
Süssigkeiten mit Arsenik
Klagen aus der Bevölkerung gab es immer wieder. Namentlich im Umfeld der Basler Farbchemie häuften sie sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts, wenn es stank, der Rhein wieder einmal in allen Farben leuchtete oder sich die draussen zum Trocknen aufgehängte Wäsche verfärbte. Auch warnende Stimmen existierten früh. So hielt der Basler Sanitätsausschuss in seinem Bericht 1866 fest: «Die Anilinfarbenfabrikation zeichnet sich vor allen andern Industrien dadurch aus, dass sie eigentlich mit Gift arbeitet und ihr Gift ihr Lebenselement ist; dass sie dieses Gift in festem, flüssigem und gasförmigem Zustand dem Boden, dem Wasser und der Luft mitteilt und dadurch, wenn ihr nicht strenge Schranken gezogen werden, eine langsame aber sichere Zerrüttung aller normalen Gesundheitsverhältnisse herbeiführt.»
Nach massenhaftem Fischsterben und dem Tod zweier Arbeiter verbot die Basler Regierung 1873 schliesslich die Verwendung von Anilin und Arsenik in der Farbenherstellung. Wobei Aufdermauer nachweist, dass das Verbot wohl nur zustande kam, weil mittlerweile arsenikfreie Methoden zur Herstellung des Farbstoffs Fuchsin auf dem Markt waren, der auch für Lebensmittelverpackungen, Sirup und Süssigkeiten verwendet wurde. Lokale Verbote bewirkten indes wenig: In Graubünden starb im darauffolgenden Jahr ein Kind, viele weitere erkrankten, weil sie an einem Jahrmarkt mit Fuchsin überzogene Süssigkeiten gegessen hatten.
Der Bundesrat wurde erst aktiv, nachdem die drei neu eingesetzten Fabrikinspektoren 1879 einen Bericht zur Lage der Fabrikarbeiter:innen vorgelegt hatten: Mit einer Giftliste von vier chemischen Stoffen, die als eindeutig gesundheitsschädigend galten – Arsenik, Phosphor, Quecksilber und Blei. Die Liste wuchs rasch an, um die Jahrhundertwende umfasste sie 24 Stoffe, 1923 bereits 87. Die Aufnahme in die Giftliste entsprach keinem Verbot, aber immerhin konnten erkrankte Arbeiter:innen jetzt finanzielle Entschädigung einfordern.
«Opferstrecken» in der Natur
Wie wenig dies nützte, zeigt das Beispiel der Zündholzproduktion, wo Kinderarbeit besonders verbreitet war. Ein Viertel der Arbeiter:innen erkrankte an der extrem schmerzhaften Phosphornekrose, die mit Zahnschmerzen begann und zum Absterben der Kieferknochen und letztlich einem frühzeitigen Tod führte. Ursache war der auch in kleinsten Mengen akut giftige gelbe Phosphor in den Zündholzköpfchen. 1879 verbot der Bundesrat den Verkauf und auch die Einfuhr von Zündhölzchen mit gelbem Phosphor – zumal mit rotem Phosphor eine ungiftige Alternative existierte. Doch die war etwas teurer und entzündete sich nicht so leicht, und so lief die Produktion mit gelbem Phosphor einfach illegal weiter, schliesslich waren auch die Strafen mild.
Nur drei Jahre später hob das Parlament das Verbot wieder auf, der Bundesrat erliess immerhin Reglemente, die Hygienemassnahmen und Kleidung zum Schutz der Arbeiter:innen vorschrieben, doch kaum eine Fabrik hielt sich daran. Und wer an Phosphornekrose erkrankte, konnte ebenso wenig auf Entschädigung hoffen – viele Zündholzfabrikanten waren selbst mittellos. Erst nachdem die Schweiz 1906 mit weiteren europäischen Ländern ein Abkommen zum Verbot von gelbem Phosphor abgeschlossen hatte, verschwand die Phosphornekrose als Berufskrankheit.
Ähnlich zahnlos blieben bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auch Versuche, der Umweltverschmutzung durch die chemische Industrie Einhalt zu gebieten, namentlich im Fall von Gewässern. Das lag daran, dass man viel zu lange an der Überzeugung festhielt, Fliessgewässer würden sich selber reinigen. Entsprechend galt noch 1926 die Ableitung von industriellen Abwässern in Flüsse als «natürlichste Art der Beseitigung». Selbst Gewässerschutzexperten stellten wirtschaftliche Überlegungen ins Zentrum: Litt die Landwirtschaft unter der Verunreinigung des Wassers, musste man sie halt entschädigen. Wo das ökonomische Interesse der Industrie gegenüber der Fischerei überwog, wurden Flussabschnitte schlicht zu «Opferstrecken» erklärt.
Vor diesem Hintergrund erstaunt es kaum, dass das Fischereigesetz von 1925, das die Gewässerverschmutzung hätte begrenzen sollen, «von vornherein zum Scheitern verurteilt» war, wie Aufdermauer mit Verweis auf zahlreiche Beispiele konstatiert. Zu stark war das Powerplay der Industrie, das von Lobbying zum Ergattern von Sonderbewilligungen und Verschleierungstaktiken bis zu Korruption und Geheimabkommen reichte.
In die Zukunft ausgelagert
Es ist ein Muster, das sich bis in die Gegenwart zieht und nicht zuletzt aufzeigt, in welche Pfadabhängigkeit von der Chemieindustrie man sich so mit der explosionsartigen Verbreitung von Pestiziden und Konsumgütern ab der Mitte des 20. Jahrhunderts gebracht hat. Traurigstes Beispiel dafür sind vielleicht die chemischen Chlor- und Fluorverbindungen, zu denen Stoffe wie TCDD (Dioxin), DDT oder PFAS gehören: Gifte, die sich in der Umwelt ablagern und über die Nahrungskette im Menschen anreichern.
DDT etwa wurde hierzulande als «Pflanzenschutzmittel» grossflächig versprüht und erst verboten, nachdem die USA und Kanada sich 1968 weigerten, Schweizer Käse zu importieren, weil sein DDT-Gehalt zu hoch war. Umgekehrt überliess man es im Wallis, wo giftige Fluordämpfe aus der Aluminiumindustrie immer wieder zu grossen Ernteeinbrüchen führten, den Betroffenen, den Nachweis dafür zu erbringen und zu bezahlen.
Im Umgang mit giftigen Stoffen, so bilanziert die Autorin, verpasste man es immer wieder, auch die längerfristigen Folgen und Nebenwirkungen mitzubedenken. Klär- und Verbrennungsanlagen sind keine «Entgiftungsmaschinen» – sie verlagern nur die Probleme: «Vom Wasser in die Luft und schliesslich in den Boden. Von der Gegenwart in die Zukunft.» Und doch greifen Regulierungen nicht, wie das Beispiel von PFAS-Verbindungen zeigt: Wird eine verboten, greift die Industrie einfach zur nächsten. Warum prüft man neue Chemikalien vor der Zulassung nicht genauso streng wie Medikamente? Es ist nur eine der bedenkenswerten Überlegungen aus der «Vergifteten Schweiz».
