Umweltskandal in den Niederlanden: «Dark Waters» in Dordrecht
Seit Jahrzehnten gefährdet eine Chemiefabrik südöstlich von Rotterdam die Gesundheit von Anwohner:innen. Jetzt klagen sie gegen die Chef:innen des US-Konzerns Chemours.
Das Rathaus des Städtchens Papendrecht südöstlich von Rotterdam ist einladend erleuchtet. Die Menschen, die aus der Dunkelheit hineinströmen, werden freundlich von Mitarbeiter:innen der Kommune empfangen. Im Foyer gibts heisse Getränke. Die Veranstaltung an einem Dezemberabend mutet wie eine besinnliche Adventsfeier an – doch das ist sie nicht: Die meisten Anwesenden sind hier, weil sie sich grosse Sorgen machen. Die Region ist Schauplatz eines massiven Umwelt- und Gesundheitsskandals. Boden, Grund- und Oberflächenwasser werden seit Jahrzehnten mit sogenannten Per- und Polyfluoralkylsubstanzen – kurz: PFAS – verseucht (vgl. «Die Ewigkeitschemikalien»). Eine Chemiefabrik des US-amerikanischen Milliardenkonzerns Chemours liegt nur wenige Kilometer entfernt von hier in Dordrecht. Sie stellt unter anderem Teflon her.
Im Erdgeschoss des Rathauses betreiben Trinkwasserbetriebe, der lokale Gesundheitsdienst, das Umweltamt der Region und Gartenexpert:innen Infostände. Seit 2022 rät das Gesundheitsministerium in Den Haag dringend, kein Gemüse aus dem unmittelbaren Umfeld der Fabrik mehr zu essen.
«Die schlechte Nachricht dieser Zusammenkunft ist: Wir haben ein PFAS-Problem», beginnt ein Mitarbeiter des Gesundheitsdiensts in einem Konferenzraum seinen Vortrag. Er erklärt, dass sich diese Stoffe leicht verbreiten und «überall drin» sind. Ob man dadurch krank werde, sei abhängig von der Menge, die man im Lauf des Lebens zu sich nehme: etwa über die Nahrung, Trinkwasser, verschmutzte Luft – oder über den Kontakt mit Kunststoffen, in denen PFAS enthalten sind.
Die Ewigkeitschemikalien
Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS) ist eine Sammelbezeichnung für Tausende von Chemikalien. Ihr gemeinsames Merkmal ist, dass sie Kohlenstoff-Fluor-Verbindungen enthalten. Da sie nur äusserst langsam abbaubar sind, werden sie auch als «Ewigkeitschemikalien» bezeichnet. Zu den PFAS zählen auch Perfluoroctansulfonsäure (PFOS) und Perfluoroctansäure (PFOA), auch als C8 bekannt.
Wegen ihres wasser- und fettabweisenden Charakters wurden PFAS ab den späten 1940er Jahren massenhaft produziert. Eingesetzt wurden sie nicht nur in Teflonpfannen, sondern auch in Backformen, Outdoorkleidung, Teppichen, Einwegverpackungen, Backpapier, Kosmetik, Zahnseide und Löschschaum.
Spuren von PFAS sind heute fast überall auf der Erde zu finden – und im Blut fast aller Menschen. Studien legen unter anderem nahe, dass der Kontakt mit PFAS das Risiko für Nieren- und Hodenkrebs erhöht sowie Schäden an Immun- und Hormonsystem sowie Schilddrüsenkrankheiten verursachen kann.
In der EU sind PFOS seit 2006 und PFOA – mit wenigen Ausnahmen – seit 2020 verboten. Auch in der Schweiz wurde der Einsatz stark eingeschränkt. 2023 reichten die Umweltbehörden Deutschlands, der Niederlande, Norwegens, Schwedens und Dänemarks bei der Europäischen Chemikalienagentur einen Antrag auf ein generelles Verbot von PFAS ein.
Die Frau in der ersten Reihe, blond, mit rosa Anorak und kritischem Blick, die nach dem Vortrag Fragen stellt, wohnt knapp einen Kilometer von der Fabrik entfernt. Sie will genau wissen, wie PFAS-Emissionen wirken, wie sie sich im Boden ansammeln – der Mann vom Gesundheitsdienst kann nicht alle ihre Fragen beantworten. Meta Kamphuis, die ihre gesamten 49 Lebensjahre in unmittelbarer Nähe zur Fabrik verbracht hat, hat gute Gründe für ihre kritischen Fragen.
Vor etwa dreissig Jahren verlor sie ihre Eltern an Krebs. Mit 45 erkrankte sie selbst daran, wobei eine Untersuchung ergab, dass sie nicht erblich vorbelastet gewesen war. Meta Kamphuis überlebte. Als dann vor drei Jahren ihr Freund an Leberkrebs starb – «obwohl er nie getrunken hat» – und ein Jahr später ihre Schwester darauf diagnostiziert wurde, begann sie, immer mehr Fragen zu stellen: Welchen Einfluss hatte der Kontakt mit den Emissionen der Fabrik auf diese Erkrankungen? Über einen Kollegen aus der Socialistische Partij, für die sie im Dordrechter Stadtrat sitzt, erhielt sie den Kontakt zu einer Bürger:inneninitiative namens Gezondheid vóór alles (Gesundheit zuerst).
Pausenlose Kritik
Es ist ein eiskalter Januarmorgen. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern dieser Gruppe steht Meta Kamphuis einige Wochen nach der Veranstaltung im Rathaus vor dem Haupteingang der Chemiefabrik. Jeden Samstag kommen sie hierher, um gegen die Verseuchung ihrer Umgebung zu demonstrieren. Diesen Februar wird der Protest zum 200. Mal stattfinden. Längst ist Kamphuis eines der aktivsten Mitglieder der Gruppe. Am Mikrofon spricht sie über die neusten Entwicklungen. Etwa über die PFAS-Verbindung TFA, für deren Produktion Chemours keine Genehmigung hat, die aber 2023 trotzdem im Abwasser gefunden wurde. Im Wiederholungsfall drohen nun hohe Strafen. Oder über die Pläne des Unternehmens, bei Paris eine neue Fabrik zu errichten, was dort für Beunruhigung sorge.
Seit diesem Sommer steht Chemours in den Niederlanden pausenlos in der Kritik. Auslöser war ein Beitrag des investigativen TV-Magazins «Zembla» mit dem Titel «Die PFAS-Vertuschung». Die Journalist:innen rekonstruierten darin, wie lange der US-amerikanische Konzern DuPont, von dem Chemours 2015 abgespalten wurde, schon über potenziell schwere gesundheitliche Schäden der PFAS-Verbindung PFOA informiert war – ohne angemessen zu handeln.
Erste Hinweise habe es demnach schon 1962 gegeben, als die Fabrik in Dordrecht eröffnet wurde. 1978 hätten die Verantwortlichen einen Versuch mit sechzehn Affen nach zwanzig Tagen abgebrochen. Das Ergebnis: Je grösser die Mengen des Stoffes PFOA, dem die Affen ausgesetzt waren, desto schneller starben sie. Auch dass der Stoff Missbildungen an Föten verursachen kann, sei bekannt gewesen.
Trotzdem wurden die hochgiftigen Chemikalien lange Zeit in der Umgebung von Dordrecht in der Merwede, einem Mündungsarm des Rheins, entsorgt. Öffentliches Bewusstsein für die Folgen der Verschmutzung gab es damals noch nicht, ebenso wenig gesetzliche Einschränkungen. Chemours und DuPont bemühten sich darum, dass das so blieb.
Als nach der Ausstrahlung der «Zembla»-Sendung zwei Vertreter:innen der Chemours-Direktion von einer parlamentarischen Kommission zu einer Anhörung geladen wurden, lautete der Tenor: All dies gehöre zur Vergangenheit, die man nicht am Wissensstand der Gegenwart messen könne. Heute sei Chemours ein Musterbeispiel für Nachhaltigkeit und stark darauf bedacht, die Emissionen stetig zu reduzieren.
Kees van der Hel kann darüber nur lachen. «Dass sie den Ausstoss verringern, löst das Problem nicht», sagt der 69-Jährige, der sich seit Beginn der Proteste 2016 daran beteiligt. «Der Boden um die Fabrik ist für alle Ewigkeit verseucht, und noch immer wird jeder Verstoss, den Chemours begeht, unter den Teppich gekehrt.»
Der Gründer der Protestbewegung, Bram de Winter, ist inzwischen an Krebs verstorben. Er wohnte in der Kleinstadt Sliedrecht, auf der anderen Seite der Merwede. Laut einer Studie des Gesundheitsdiensts von 2019 sind zwar die Fälle von Nieren- und Hodenkrebs hier in der Region nicht höher als im Rest des Landes, wohl aber die Hautkrebsrate. Gezondheid-vóór-alles-Mitglieder haben zudem ausgerechnet, dass die Sterblichkeitsrate bei Krebserkrankungen in Sliedrecht erhöht ist. «Was daran liegen kann, dass PFAS das Immunsystem schädigt», sagt Kees van der Hel. «Bestrahlungen oder Chemotherapie sind dann weniger wirksam.» Er leert, so wie er es jeden Samstag tut, einen Eimer mit verseuchter Erde vor dem Werkstor von Chemours aus und giesst dann eine Flasche Leitungswasser darüber: «Alles mit PFAS kontaminiert, aus Papendrecht», sagt er.
Ab ins Gefängnis
Die Geschichte erinnert an den Film «Dark Waters» von 2019, der die wahre Geschichte des Anwalts Robert Billot erzählt. Dieser konnte DuPont in den USA in einem jahrelang dauernden Rechtsstreit nachweisen, mit hochgiftigen Chemikalien Anwohner:innen und Personal zu gefährden sowie Trinkwasserquellen zu verseuchen. Die Sammelklage von über 3500 Geschädigten endete 2017 mit einem Vergleich: DuPont zahlte 671 Millionen Dollar. In eine ähnliche Richtung bewegt sich auch die niederländische «Dark Waters»-Variante: Im September befand ein Rotterdamer Zivilgericht, Chemours sei für den Schaden haftbar, den die umliegenden Kommunen durch die PFAS-Verseuchung erlitten hätten.
Die bekannte Anwältin Bénédicte Ficq arbeitet bereits an einer strafrechtlichen Sammelklage. Im Namen von 4000 Anwohner:innen erstattete sie Anzeige gegen Chemours. «Grundlage ist ein Paragraf, der es unter Strafe stellt, absichtlich gesundheitsschädliche Stoffe in Boden, Luft oder Wasser auszustossen», erklärt sie in ihrer Amsterdamer Kanzlei. Mit zwölf bis fünfzehn Jahren Gefängnis wird das Vergehen bestraft. Ficq zeigte nicht die juristische Person Chemours, sondern die Mitglieder der Führungsebene persönlich an. «Ich bin überzeugt, dass sich der gleichgültige Umgang mit gefährlicher Verschmutzung nur ändert, wenn Menschen persönlich dafür zur Verantwortung gezogen werden.»
Die Staatsanwaltschaft habe nun eine strafrechtliche Untersuchung eingeleitet, was etwa eineinhalb Jahre dauern werde, sagt die Anwältin. Bénédicte Ficq fühlt sich selbst «intrinsisch motiviert», dazu beizutragen, die Lebensqualität des Planeten zu erhalten. Und sie sieht einen Wandel in der Gesellschaft, was die Ignoranz gegenüber der öffentlichen Gesundheit betrifft: «Das wird immer mehr als etwas Kriminelles gesehen; das Instrument Strafrecht habe ich daher bewusst gewählt», sagt sie. «Auch weil Bussgelder solche Unternehmen nicht interessieren.»
Ende Januar machen sich Meta Kamphuis, Kees van der Hell und knapp siebzig Mitstreiter:innen mit dem Bus auf den Weg nach Brüssel. Im Gepäck ihr Markenzeichen: Dutzende Flaschen und Einmachgläser voll mit verseuchtem Wasser und Erde. Mithilfe dreier EU-Abgeordneter aus den Niederlanden sollen diese an die übrigen Mitglieder des Parlaments verteilt werden, um der Forderung nach einem generellen PFAS-Verbot Nachdruck zu verleihen.