Literatur: «In mir drin ist es nie ruhig»

Nr. 8 –

Der haitianische Autor Jean D’Amérique spricht über sein Romandebüt, ein elitäres Verständnis von Lyrik – und erklärt, warum er den Rapper Kendrick Lamar mindestens so schätzt wie Charles Baudelaire.

Jean D’Amérique am Limmatufer in Zürich
Schreibt von widerständigen Frauenfiguren, die sich den Erwartungen ihres Umfeldes verweigern: Jean D’Amérique am Limmatufer in Zürich.

Er sei Dramatiker, Romancier, Rapper – und Poet. So steht es auf der Website von Jean D’Amérique. Doch alle Bezeichnungen bis auf den «Poeten» sind durchgestrichen. Warum? «Weil der Ausgangspunkt immer die Poesie ist», sagt er. Auch wenn er sich in anderen literarischen Gattungen bewegt, sind das lediglich «des îles», Inseln, die er besucht. Mit der Poesie aber beginnt bei ihm alles. Oder doch mit einem Beat?

Es ist ein regnerischer Winterabend, Jean D’Amérique sitzt für das Interview im Backstagebereich des Literaturhauses Basel, er hat gerade den Soundcheck beendet. Der Dreissigjährige wirkt zurückhaltend und bestimmt zugleich. Dass er in einer Stunde einen Auftritt hat, merkt man ihm nicht an.

Seit Februar ist der mehrfach ausgezeichnete Autor für ein halbes Jahr zu Gast im Literaturhaus Zürich. Porträts von ihm gibt es in den deutschsprachigen Medien kaum, Rezensionen dafür zahlreiche. Vergangenen Dezember ist Jean D’Amériques Romandebüt «Soleil à coudre» unter dem Titel «Zerrissene Sonne» bei Litradukt auf Deutsch erschienen – und begeistert besprochen worden.

Er habe nie vorgehabt, einen Roman zu schreiben, sagt Jean D’Amérique. Eher suche er in seinen Projekten nach einer Sprache, die die Geschichten, die er erzählen wolle, vermitteln könne. Die Form sei nebensächlich. Anders sieht das der Literaturbetrieb. Es komme ihm so vor, als würde man erst durch einen Roman zum Schriftsteller werden, lacht er. D’Amérique hat zahlreiche Prosatexte, Theaterstücke, Lyrikbände und Rapalben veröffentlicht. Und schreibt ständig. Auf dem Handy, im Notizbuch, am Laptop – oder im Kopf: «In mir drin ist es nie ruhig. Da sind immer Stimmen, die hinauswollen.»

Eine komplizierte Liebe

Jean D’Amérique wurde in Côtes-de-Fer, Haiti, geboren. Heute lebt er in Paris. Durch sein Werk ziehen sich widerständige, zornige Frauenfiguren. In «Zerrissene Sonne» ist das die zwölfjährige Ich-Erzählerin Tête Fêlée, was so viel bedeutet wie «Spinnerin». Tête Fêlée verliebt sich in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince in die Tochter ihres Schulleiters. Es ist eine komplizierte Liebe, die dadurch noch verkompliziert wird, dass Tête Fêlée dem Schulleiter – nachdem er sie vergewaltigt hat – in den Kopf schiesst.

In wuchtig-opulenter Sprache und kondensierten, rhythmisierten Sätzen lässt Jean D’Amérique Tête Fêlée durch eine Welt navigieren, in der Gewalt und Tod die einzigen verlässlichen Konstanten sind. Auch Tête Fêlée schreibt ständig. Sie verzeichnet die Vorgänge, die um sie herum und in ihr drin geschehen. Und malt ein sozialpolitisches Tableau von Port-au-Prince.

Ihre Mutter, alkoholkrank, ist Sexarbeiterin. Der Stiefvater hat zwar keinerlei väterliche Ambitionen, wird aber trotzdem von allen «Papa» genannt. Man sei vertraut «mit dem Paradoxon», heisst es im Roman. Als Handlanger eines berüchtigten Gangsters mordet und entführt er.

Es sei die Stimme «Papas» gewesen, die sich ihm zuerst aufgedrängt habe, sagt Jean D’Amérique: ein Gnadenloser, aber auch einer, der für all die abwesenden Väter stehe, die ihre Kinder durch ihr «Nichtvorhandensein» prägen würden. Während der Arbeit am Text habe aber auf einmal eine andere Stimme aus seinem Bauch herausgeschrien: Tête Fêlée. «Sie war laut, sie wollte bleiben», erzählt er. Seine Protagonistin reproduziert die Gewalt, durchbricht sie aber auch. Tête Fêlée ist bewaffnet. Mit einer Knarre und mit einer Stimme. Eine solche Disposition schreiben Autoren meist männlichen Figuren auf den Leib. Bei Jean D’Amérique ist das anders.

Schon in seinem Gedichtband «Rachida debout» reflektiert er die Macht einer Frau mit Fluchterfahrung, die beginnt, sich den Erwartungen ihres Umfelds konsequent zu verweigern. Im Theaterstück «Opéra poussière» untersucht er eine Märtyrerin, die Leutnantin der haitianischen Revolutionsarmee: Sanite Bélair, von französischen Kolonialherren mit 21 Jahren erschossen, erlebte nicht, wie Haiti kurz nach ihrer Ermordung die Unabhängigkeit erlangte. D’Amérique lässt sie auferstehen und mit dem Hashtag #HéroïneEnColère in heutigen sozialen Netzwerken wüten.

Verarbeitung der Diktatur

Während seines Aufenthalts in Zürich arbeitet er an einem fiktionalen Werk. Ein Versuch, das Wesen der Diktatur literarisch-metaphorisch zu verarbeiten. D’Amérique lässt sich dabei von den dunklen Jahren der Duvalier-Diktatur in Haiti und von Missständen anderswo leiten. Mit dem internationalen Literaturfestival Transe poétique, das er seit einigen Jahren verantwortet, hat er Port-au-Prince 2019 das letzte Mal besucht. Seither hat sich die Lage in seinem Heimatland immer weiter verschlechtert.

D’Amérique spricht im Fall von Haiti von einer humanitären Grosskatastrophe, aber auch von einer Krise des Menschseins. «Wenn ich über meine Figuren in den Slums von Port-au-Prince schreibe, fungieren sie als kollektive Stimme für all die Menschen, die dort täglich in Gefahr sind», sagt er. Aber es seien nicht nur die Menschen in Haiti in einer Notlage: «Vielmehr steckt das Menschlichsein in einer Dauerkrise.» In seinen Texten kritisiert er unkoordinierte NGOs, die in Haiti millionenschwere Projekte durchführen, ohne damit etwas zu verändern. Er benennt die strukturelle Gewalt des Westens und die Spur der Verwüstung, die der Kapitalismus in den ärmsten Ländern der Welt hinterlässt. Literatur versteht D’Amérique als politischen Akt: «Im besten Fall rüttelt sie uns wach.»

Seine Schriftstellerexistenz in Paris – oder Zürich – entspreche einem Zustand, der sich am besten mit dem vom haitianischen Schriftsteller Jean-Claude Charles geprägten Begriff «enracinerrance» beschreiben lasse, was auf Deutsch mit «irrfahrende Verwurzelung» übersetzt werden kann. Es ist ein Zustand, in dem er auf der ständigen Suche nach seiner Identität in der Welt umherwandert, während er gleichzeitig tief verwurzelt in Dingen bleibt, die ihn geprägt haben.

Bei Jean D’Amérique ist das auch der Rap. Mit elf hört er zum ersten Mal die Kreyòl-Gruppen Barikad Crew und Rockfam: «Die rohe Poesie und gleichzeitige Musikalität haben mich umgehauen.» In den Zeilen der jungen Rapper erkannte er sich wieder. D’Amérique begann, eigene Texte zu verfassen: Rap-Lyrics – und Gedichte. Und die Poesie, sie fand überall statt. Jemand sagte aus dem Nichts in einem Café oder Jugendzentrum ein Gedicht auf, und jemand anderes antwortete mit einem Gegengedicht. Oft sei dann spontan ein Konzert daraus erwachsen.

Für D’Amérique gibt es keinen Grund, Musik und Literatur zu trennen. Sein Romandebüt kann auch als langer Rapmonolog gelesen werden, der Sound ploppt auf Textebene in «Zerrissene Sonne» auf. Mit dem legendären Jazzmusiker John Coltrane an der Seite des US-Rappers Kendrick Lamar etwa. «Nach Coltrane und Kendrick muss man sterben», schreibt D’Amérique. Er findet Lamars ­Œuvre mindestens so beeindruckend wie jenes von Baudelaire: «Die Dringlichkeit, die aus Lamars Lyrics spricht, macht ihn zu einem der grossartigen Geschichtenerzähler der Gegenwart.»

Kürzlich war Jean D’Amérique mit seinem neusten Album, «Melancolie Gang», in Frankreich auf Tour, und auch in Zürich wird er, gemeinsam mit dem Musiker und Produzenten Bit-Tuner, ein Konzert bestreiten. Wie das werden könnte, zeigt sich an diesem Abend in Basel. Im Moment, in dem D’Amérique einen Fuss auf der Bühne hat, legt sich in ihm ein Schalter um. Seine unaufdringliche Art weicht augenblicklich einem ungestümen Auftreten. Die Geschichten schleudert er geradezu ins Publikum: mit lyrischer wie performativer Wucht.

Buchcover von «Zerrissene Sonne»
Jean D’Amérique: «Zerrissene Sonne». Litradukt Verlag. Trier 2024. 114 Seiten.

D’Amérique performt am Samstag, 22. Februar 2025, um 20 Uhr im Rahmen der «Tage internationaler Literatur» im Cabaret Voltaire in Zürich.