«Anora»: Atemlos, schwindelfrei, grosses Kino für uns zwei
Sean Baker lässt in seinen Filmen die Affekte explodieren. Für sein Märchen «Anora» hat der US-Regisseur in Cannes die Goldene Palme gewonnen.
Wenn man mit Mitte zwanzig als Stripperin in einem gar nicht so schäbigen New Yorker Club namens «Headquarters» arbeitet, dabei nicht allzu schlecht verdient und auch gute und solidarische Beziehungen zu den anderen Sexarbeiterinnen pflegt, sich halt aber immer noch den ganzen Tag halb nackt auf dem Schoss von Männern räkeln muss; wenn man gleichzeitig immer noch an Märchen glaubt, etwa an jenes aus «Pretty Woman» vom Freier mit dem Herzen aus Gold oder an den amerikanischen Traum, und dann ein sympathischer Oligarchensohn auftaucht, sexuell vielleicht ein bisschen naiv, aber durchaus lernwillig, der einen gut dafür bezahlt, während einer Woche «seine Freundin» zu sein; wenn dieser junge Russe über scheinbar unbeschränkten Zugriff auf das Bankkonto seines Vaters verfügt, der eine ausladende Villa mit Dienerschaft und Privatjet besitzt, und man jetzt spontan zu einem exzessiv hedonistischen Wochenende nach Las Vegas fliegt; wenn der absurd privilegierte und daher ziemlich realitätsfremde Sohn dort nach besonders gutem Sex impulsiv, aber durchaus aufrichtig fragt, ob man seine Frau werden möchte und man dann bei der Trauung in der «Wedding Chapel» gefragt wird, ob man diesen wirklich zum Mann nehmen möchte, bis der Tod einen scheide – was soll man dann schon antworten?
Gleich wieder Anlauf nehmen
Die Filme des US-Amerikaners Sean Baker leben von der Energie ihrer manipulativen, egoistischen, überforderten und doch liebenswerten Hauptfiguren, allerdings nicht in einem parasitären Sinn, sondern in einer Art Symbiose, also in alle Richtungen vorteilhaft. Das ist umso bemerkenswerter, als Bakers Protagonist:innen meist marginalisierte Figuren sind, die ihr Geld oft mit verschiedenen Formen von sexueller Arbeit verdienen: die Pornodarsteller:innen in «Starlet» (2012) und «Red Rocket» (2021), die transsexuellen Schwarzen Prostituierten in «Tangerine» (2015) und jetzt eben die Stripperin Ani in «Anora». Und so, wie sich beispielsweise «The Florida Project» (2017) ganz von der kindlich-frühreifen Wahrnehmung der sechsjährigen Moonee hat führen lassen, übernimmt auch «Anora» ganz die Perspektive der selbstsicheren und ambitionierten Ani (atemraubend: Mikey Madison).
Als Ani von den armenischen und russischen Handlangern, die ihr neuer Schwiegervater vorausgeschickt hat, ziemlich unsanft auf den Boden der Realität zurückgeholt wird, nimmt sie auf diesem Boden sogleich wieder Anlauf, um mit ungeahnter Kraft ihre unbescheidenen neuen Interessen durchzusetzen. Und während Vanya (Mark Eydelshteyn), der verwöhnte Oligarchensohn und frischgebackene Ehemann, sich dabei als relativ unbrauchbar erweist und das Weite sucht, muss Ani (ihren «blöden usbekischen Namen» Anora lehnt sie ab) ihre neuen Privilegien buchstäblich mit Händen, Füssen und Zähnen verteidigen. Wobei auch dem Film offenbar nichts anderes übrig bleibt, als diesem Spektakel namens Ani atemlos hinterherzuhecheln.
Spuren der Verwüstung
Manche meinen jetzt, dass sich Sean Baker trotz beinahe zweieinhalbstündiger Laufzeit zu wenig Zeit dafür nimmt, auch die düsteren Seiten der Sexarbeit zu beleuchten oder diese gar zu hinterfragen; dass er den kapital- und drogengetränkten Hedonismus der unanständig reichen Russen und ihrer Entouragen zu unkritisch, also zu verführerisch darstellt und dass gewisse Figuren in der Spur der Verwüstung, die Ani und Vanya in der Folge ihres unüberlegten Ja-Worts zurücklassen, etwas gar eindimensional gezeichnet sind – kurz, dass sich Baker, der dieses Jahr als erster US-Regisseur seit 2011 die Goldene Palme in Cannes gewann, kein bisschen mit einer angemessenen soziologischen Reflexion der Milieus aufhält, die er in seinem Film darstellt. Das ist zwar nicht ganz falsch, verkennt aber die Tatsache, dass es ihm in «Anora» gerade nicht um Reflexion, sondern um die Schöpfungskraft chaotischer Energien geht – um die Explosion des reinen Affekts, hier gezündet von der Reibungshitze zwischen zwei sozialen Milieus, die ausserhalb eines transaktionsbezogenen Kontexts wie Haus- oder Sexarbeit eigentlich unvereinbar sind.
Dabei schlägt sich «Anora» bedingungslos auf die Seite nicht nur von Ani, sondern von allen Figuren, die in den verschiedenen Machtgefällen jeweils an unterer Stelle stehen. Also etwa auch auf die Seite der überforderten armenischen «Fixer», die von Vanyas Eltern den Auftrag haben, die Ehe mit der Stripperin rückgängig zu machen, oder von Igor (Juri Borisow), der sich, als muskulöse Geheimwaffe des Films, von Anis inspirierender Gegenwehr auch gegen seine eigenen körperlichen Überwältigungsversuche seinerseits, nun ja, inspirieren lässt. Und klar kann man diesen – versuchen wirs mit einer Wortschöpfung – sozioempathischen Akzelerationismus unreflektiert oder gar beschönigend finden. Am Ende müssen nun mal alle von irgendetwas leben.
«Anora». Regie und Drehbuch: Sean Baker. USA 2024. Jetzt im Kino.