Patriarchale Gewalt : Was auf die Trennung folgt

Nr. 9 –

Gewaltdynamiken setzen sich oft auch nach einer Trennung fort – und das hat nicht zuletzt mit den Schweizer Gesetzen und Behörden zu tun. Eine junge Mutter erzählt.

Diesen Artikel hören (11:59)
-15
+15
-15
/
+15

Als Janine Lüthi* ihren heutigen Expartner kennenlernt, ist sie erst sechzehn. Zweieinhalb Jahre später wird aus der Freundschaft mit dem knapp zehn Jahre älteren Mann eine romantische Beziehung. Diese ist schön und aufregend für die angehende Pharmaassistentin, bis sie im letzten Lehrjahr zu ihrem Partner zieht. «Da habe ich angefangen zu merken, dass er nicht die Person ist, die er vorgegeben hatte zu sein.» Lüthi erfährt von den Schulden und vom Drogenkonsum ihres Freundes, vor allem aber wird er ihr gegenüber übergriffig: Er beschimpft sie, bespuckt sie und beginnt bald auch, sie zu schlagen.

Es folgen drei Jahre, in denen sich Gewalteskalationen mit «Honeymoon-Phasen» abwechseln: «Da war ich die Frau seines Lebens, so schön, so schlau, die Beste. Dann passierte irgendetwas, es folgte ein Angriff von ihm. Darauf entschuldigte er sich, fand vielleicht sogar mal einen Therapieplatz.» Der Zyklus wiederholt sich unzählige Male. Mit 21 wird Lüthi ungeplant schwanger. Ihr Freund hört nicht auf, sie zu schlagen. Als ihre Tochter da ist, tut sie alles, um diese zu schützen, entzieht sich immer stärker der Kontrolle ihres damaligen Partners. «Ich glaube, das hat er gespürt», sagt die heute 30-Jährige. Nachdem er sie im Beisein der Tochter auf dem Küchenboden würgt und droht, sie umzubringen, fasst Lüthi den Entschluss, zu gehen. Sie meldet sich bei einer Opferberatungsstelle. «Die sagten mir, dass ich brutal gefährlich lebe, meine Tochter und die wichtigen Papiere einpacken und gehen soll.»

Mediation und Macht

Die von Janine Lüthi beschriebenen Beziehungs- und Gewaltdynamiken seien typisch für Fälle von häuslicher Gewalt, sagt Anne-Lea Portmann. Die Bernerin gründete vor rund zwei Jahren die «Sisters Domestic Violence and Abuse Bern», eine Selbsthilfegruppe für Opfer häuslicher Gewalt, über die sie auch Lüthi kennenlernte. In der Gruppe sind aktuell etwa vierzig Personen aus dem Raum Bern aktiv, die sich gegenseitig unterstützen. Portmann hat sich auch wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigt. Sie weiss: Viele Betroffene häuslicher Gewalt brauchen mehrere Anläufe, um sich aus einer Beziehung zu lösen – doch damit endet nicht unbedingt die Gewalt. Ihre Masterarbeit in Angewandten Menschenrechten schrieb Portmann über Nachtrennungsgewalt und untersuchte dafür insbesondere die Rolle von Schweizer Institutionen beim Schutz von Frauen und Kindern.

Auch Janine Lüthis Albtraum war mit der Trennung längst nicht vorbei. Gemeinsam mit ihrer Tochter flüchtete sie in ein Frauenhaus, wo sie blieb, bis sie mithilfe ihres Stiefvaters eine eigene Wohnung fand. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) wurde eingeschaltet, und es kam zu einer ersten Anhörung. Lüthis Expartner musste ein Täterprogramm absolvieren und durfte die Tochter zunächst nur unter Aufsicht sehen. Kurz darauf zog die junge Mutter um, eine neue Kesb-Stelle wurde zuständig. «Ab diesem Zeitpunkt ging es bergab», erinnert sich Lüthi. Sie ist gegen eine Lockerung des Besuchsrechts, es kommt zu einer Mediation. Obwohl Mediationen aufgrund der Machtasymmetrien bei Gewaltfällen als ungeeignet gelten, tendieren Behörden dazu, sie auch in diesen Fällen anzuordnen.

«Ich hatte permanent Angst in dieser Zeit. Er hat mich jeweils schon unten im Gebäude abgepasst, und vor der Mediatorin spielte er den umgekehrten Handschuh.» Damals droht ihr der Expartner regelmässig per Telefon sowie bei den Übergaben des Kindes. Janine Lüthi fühlt sich machtlos, kennt ihre Optionen oft nicht, man sagt ihr, sie müsse kooperativ sein, müsse dem Expartner einen Vertrauensbonus geben. Ihr wird gesagt, wenn sie immer noch Angst um ihre Tochter habe, sei das ihr Problem. Nach der Mediation erhält ihr Expartner schrittweise das reguläre Besuchsrecht.

Nachtrennungsgewalt kann unterschiedliche Formen annehmen, häufig sind es etwa psychische und finanzielle Gewalt, die in Fällen, in denen die Expartner:innen gemeinsame Kinder haben, besonders lange fortwirken können. «Das kann sich in permanenten Sorgerechtsstreiten äussern, in Drohungen, die Kinder wegzunehmen, in deren Instrumentalisierung oder auch in Strategien der gezielten Verarmung von Expartnerinnen, etwa indem Alimente nicht rechtzeitig gezahlt werden», erklärt Anne-Lea Portmann. Ein Kontaktabbruch zum gewalttätigen Expartner ist meist nicht möglich, wenn Kinder da sind. Diese haben das Recht auf Kontakt zu beiden Elternteilen, dasselbe gilt auch umgekehrt. Viele der für die Nachtrennungszeit spezifischen Gewaltformen sind keine eigenen Straftatbestände, was es Betroffenen schwer macht, sich zu wehren.

Geteilte Sorge trotz Gewalt

Janine Lüthi hat das Obhutsrecht über ihre Tochter, diese lebt bei ihr. Das hatte die Kesb kurz nach der Trennung so entschieden. Am gemeinsamen Sorgerecht für das Kind wurde dagegen nie gerüttelt. Dies ist nicht etwa ein Sonderfall, sondern vielmehr die Regel, wie eine vom Eidgenössischen Büro zur Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) und von der Schweizerischen Konferenz gegen Häusliche Gewalt in Auftrag gegebene Studie zeigt. Im 2024 publizierten Bericht untersuchten die Autorinnen unter anderem die Berücksichtigung elterlicher Partnerschaftsgewalt in Trennungs- und Scheidungsverfahren. Und sie kamen dabei zum Schluss: Nur rund die Hälfte der befragten Kesb-Mitarbeitenden gaben an, bei Trennungsfällen systematisch abzuklären, ob es zu Gewalt kam, unter den befragten Richter:innen waren es sogar nur dreissig Prozent. Doch selbst wenn Gewaltvorfälle bekannt waren, tendierten die Behördenvertreter:innen in rund 97 Prozent der Fälle dazu, am gemeinsamen Sorgerecht festzuhalten. Dieses gilt seit einer Gesetzesänderung, die 2014 in Kraft trat, auch bei Trennungen als Regel und bedeutet, dass die Eltern wichtige Entscheidungen über die Entwicklung ihres Kindes gemeinsam treffen.

«Die gemeinsame Sorge hat natürlich grundsätzlich positive Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frauen und Männern sowie auf deren Kinder», sagt Gaëlle Droz-Sauthier. Die Juristin arbeitet am Institut für Familienforschung und -beratung an der Universität Fribourg und hat den EBG-Bericht mitverfasst. Mehr Gleichstellung – das war auch die Intention der Sorgerechtsrevision. «Es gibt aber auch Fälle, in denen ein Elternteil die gemeinsame elterliche Sorge für die Kinder benutzt, um die Kontrolle über den anderen Elternteil zu behalten.» Viele Institutionen seien nicht ausreichend dafür sensibilisiert, zwischen Konflikt und Gewalt zu unterscheiden.

Droz-Sauthier kritisiert, dass auch in Fällen, in denen es zu häuslicher Gewalt kam, an der gemeinsamen Sorge festgehalten wird. Genau wie Anne-Lea Portmann, die aus ihrer Arbeit Frauen kennt, die darunter leiden: etwa die Mutter, die den Pass ihres Kindes seit fünf Jahren nicht erneuern kann, weil ihr Expartner die Unterschrift verweigert. Oder eine Frau, die die Zustimmung ihres gewalttätigen Expartners brauchte, um innerhalb der Stadt Bern mit dem gemeinsamen Kind umziehen zu dürfen. Für Portmann ist klar: «Die gemeinsame Sorge verlängert die Gewalt.»

Es bräuchte systematische Abklärung

Wieso halten Behörden trotz häuslicher Gewalt am gemeinsamen Sorgerecht fest? Zum einen liege das an gesellschaftlichen Vorstellungen, meint Juristin Droz-Sauthier. «Es herrscht immer noch das Paradigma vor, dass ein schlechter Ehemann nicht unbedingt ein schlechter Vater sei.» Das, obwohl Kinder nachweislich unter partnerschaftlicher Gewalt leiden. Portmann kommt in ihrer Arbeit zum Schluss, dass auch frauenfeindliche Narrative bei Behördenentscheidungen eine Rolle spielen (vgl. «‹Misogyne Mythen sind wahnsinnig wirkmächtig›»).

Ebenfalls ein Problem ist zudem die Tatsache, dass bei der Sorgerechtsrevision häusliche Gewalt nicht explizit als Ausschlusskriterium für die Erteilung der gemeinsamen Sorge definiert wurde. Obwohl in der Vernehmlassung auf die Problematik hingewiesen wurde, verzichtete der Bundesrat auf eine Berücksichtigung im Gesetzgebungsprozess. Stattdessen gilt heute nicht weiter spezifizierte «Gewalttätigkeit» als Grund, das Sorgerecht zu entziehen – was bei Gewalt im familiären Kontext nur in Ausnahmefällen geschieht. «Dabei wäre die Schweiz laut der Istanbul-Konvention verpflichtet, genau das zu tun», sagt Anne-Lea Portmann.

Tatsächlich verlangt die von der Schweiz 2017 ratifizierte Konvention, dass «die Ausübung des Besuchs- oder Sorgerechts nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet». Das sollte etwa mit gesetzgeberischen Massnahmen sichergestellt werden. Gaëlle Droz-Sauthier setzt sich genau dafür ein. Zusammen mit den Ko-Autorinnen ihrer Studie schlägt sie unter anderem vor, dass die Behörden das Vorhandensein häuslicher Gewalt systematisch abklären und dass in solchen Fällen das alleinige Sorgerecht ausgesprochen wird.

Das EBG, das die Studie mit in Auftrag gegeben hat, schreibt auf die Frage, was der Bund zur Behebung der festgestellten Defizite tue, man habe Grundlagendokumente wie etwa einen Leitfaden zum Kontakt nach häuslicher Gewalt aktualisiert, der dem Fachpublikum bekannt gemacht werde. In Bezug auf die Abklärung und die Berücksichtigung von Partnerschaftsgewalt bei Trennungsfällen stärke man zudem die Aus- und Weiterbildung verschiedener Berufsbereiche und führe etwa Workshops für Richter:innen und Kesb-Mitarbeitende durch.

Janine Lüthi hätte gerne das alleinige Sorgerecht, doch das ist kein Thema. Als ihr Expartner eine neue Frau kennenlernt, entspannt sich das elterliche Verhältnis zunächst. «Die neue Freundin war oft bei den Übergaben unserer Tochter dabei», erinnert sich Lüthi. Die beiden heiraten, die neue Frau wird schwanger. Irgendwann taucht sie bei den Übergaben nicht mehr auf. Lüthi nimmt mit ihr Kontakt auf und erfährt, dass auch sie in der Beziehung Gewalt erfuhr. «Sie hat praktisch genau das Gleiche erlebt wie ich, einfach in zwei statt in vier Jahren.»

Angst um Aufenthaltsstatus

Die Frau, eine russische Staatsbürgerin, muss derzeit um ihren Aufenthaltsstatus fürchten. Auch sie ist heute bei den «Sisters», auch ihr Fall fand Eingang in Anne-Lea Portmanns Arbeit. Der Expartner hat mittlerweile eine neue Freundin. Gemäss der Schilderung von Janine Lüthis Tochter hat er auch dieser gegenüber Gewalt angewendet. Nach einer Meldung und Gesprächen im vergangenen Sommer geschieht auch dieses Mal: nicht viel, ausser dass die Tochter die anstehenden Ferien nicht beim Vater verbringen muss. «Es hiess, meine Tochter hätte das falsch verstanden, die Freundin sei aus Mexiko, da hätten die Leute halt einfach mehr Temperament.»

Die betroffene Stelle der Kesb nimmt aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes keine Stellung zu konkreten Fällen, schreibt aber auf Anfrage, die Mitarbeitenden seien für Fragen der häuslichen Gewalt sensibilisiert und bildeten sich auch spezifisch weiter. In konkreten Einzelfällen ordne die Behörde Massnahmen sorgfältig und gezielt an.

* Name geändert.