Literatur: Was sagbar ist
Der Sammelband «Nein! Stimmen aus Russland gegen den Krieg» präsentiert Texte oppositioneller Autor:innen.

Wie kann Literatur reagieren, wenn die Politik der Lüge und Propaganda die Gegenwart und die Sprache dominiert? Die Moskauer Autorin Natalia Lizorkina hat, wohl inspiriert von Samuel Beckett, in ihrem kurzen Theaterstück «Wanja lebt» eine Antwort darauf gefunden. Es erzählt von einer russischen Soldatenmutter, die wissen will, ob und wie ihr Sohn Wanja gestorben ist. Sie wird von Behörden angerufen, spricht mit Freunden von Wanja, mit Nachbar:innen, Polizisten.
Ihr Sohn sei «in den Frieden» gezogen, sagt sie, und es sei ja niemand schuld, «dass wir Frieden haben». Sie beklagt sich: «Ich bin eine Soldatenmutter. Ich habe ein Recht darauf zu wissen, wie er überlebt hat.» Später wird sie vor Gericht gestellt und vom Richter schuldig gesprochen mit den Worten: «Sie haben nichts gemacht und werden zu fünfzehn Jahren absoluter Freiheit verurteilt.»
Kafkaeske Repression
«Wanja lebt» wurde auf einigen Bühnen in Europa gezeigt, der Text des Dramas ist nun auch in einer Anthologie nachzulesen, die der im Exil lebende russische Autor Sergej Lebedew veröffentlicht hat. «Nein! Stimmen aus Russland gegen den Krieg» heisst der Band, versammelt sind neben Lizorkinas Theatertext Gedichte, Erzählungen und autofiktionale Texte von 24 russischen und belarusischen Autor:innen. Einige leben im Exil, andere leben noch immer in Russland und schreiben unter Pseudonym. Manche Autor:innen versuchen, so wie Lizorkina, die absurden putinschen Behauptungen durch Überaffirmation zu unterminieren. In anderen Texten wird der russische Repressionsapparat als kafkaeskes Geflecht dargestellt.
Den Herausgeber Sergej Lebedew, der aus Moskau stammt und seit sechs Jahren in Potsdam lebt, darf man als dissidenten Autor bezeichnen. In seinem Roman «Menschen im August» (2015) verhandelt er die nicht existente Aufarbeitung der Geschichte in Russland; «Das perfekte Gift» (2021) erzählt von den mutmasslichen Giftmorden des Putin-Regimes und der Kontinuität der Unterdrückungsmethoden von der Sowjetzeit bis in die Gegenwart.
Vielleicht zum ersten Mal seit Beginn des russischen Angriffskriegs bietet Lebedews Sammelband eine umfassende literarische Aufarbeitung dessen, was der Krieg im Land des Aggressors selbst anrichtet. Thematisch geht es um Familien, die ideologisch und tatsächlich auseinandergerissen werden, um die Allgegenwart von Repression und Propagandasprache, um die Russifizierung der kolonisierten ethnischen Minderheiten, um die Verfolgung der LGBTQ-Community.
Was sagbar ist in Zeiten des «Krieges, den man nicht Krieg nennen durfte», beschreibt die ebenfalls exilierte Schriftstellerin Alissa Ganijewa in einer Geschichte, die von einer Ehrenzeremonie für gefallene Helden in einem Dorf handelt. Diese feiert man dafür, dass sie für die «Entnazifizierung» und gegen den «Satanskrawall in der Ukraine» gekämpft haben.
Über den Geheimdienstterror schreibt dagegen die aus Jekaterinburg stammende Autorin Jegana Dschabbarowa. Sie stellt dar, wie sich das Leben der oppositionellen Ich-Erzählerin ändert, als Nationalist:innen im Netz gegen sie hetzen und der Inlandsgeheimdienst FSB beginnt, nach ihr zu suchen. «Im russischen Wort für Denunziation – Donos – steckt Nos, die Nase. Diese fremde Nase beschnupperte nun mein Zuhause und versuchte, etwas Anstössiges zu finden», heisst es in einer Passage des Texts. Auch die Baba Jaga, eine bekannte Figur aus der slawischen Mythologie, wird in diesem Band Opfer von Repression – und zwar im Beitrag von Moroska Morosowa. Darin wirft die Staatsanwaltschaft der Sagengestalt vor, sie habe zu hohe Opferzahlen auf russischer Seite verbreitet und «die militärische Spezialoperation und die Politik des Staatsoberhaupts kritisiert».
Beeindruckende Vielfalt
Die Versuche, die russische Gegenwart einzufangen, sind insgesamt beeindruckend vielfältig. Sergej Lebedew erzählt, wie ein Krimineller, dem acht Jahre aufgebrummt wurden, entlassen und für den Krieg rekrutiert wird. In Alexej Poljarinows Geschichte werden Denkmäler lebendig, beratschlagen über den Krieg und überlegen, ob sie in den Widerstand gehen sollen. Auch die Beiträge zur russischen Sprachpolitik sind stark, in Lena Beljajewas «Russisch als Fremdsprache» mischt sich Sprachunterricht mit Propaganda; andere Texte handeln davon, wie Sprachen wie Awarisch, Udmurtisch und Tatarisch unterdrückt werden.
Wie in anderen Diktaturen auch entsteht durch das Putin-Regime eine neue Begrifflichkeit. Es gibt Wörter für die systemtreuen Künstler:innen, die «Z-Schriftsteller und Z-Poeten» genannt werden. Mitglieder des Zentrums E, einer russischen Spezialeinheit zur Bekämpfung des Extremismus, sind «Eschniks». Und die Propaganda-Dauerbeschallung, so Lebedew in der Einleitung, habe die gesamte Sprache vergiftet. «Heute ist die russische Sprache voll von toten Worten, von Mörder-Worten, von Worten, die Hass und Feindschaft säen, von Lügen-Worten, von Worten der Schande. Von Zombie-Worten», schreibt er. Die Anthologie entlarvt diese Sprachpolitik des Aggressors.
