Licht im Tunnel: Aus dem Trauerland

Nr. 11 –

Michelle Steinbeck über Vögel und Joan Didion

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Die Stare sind zurück. Ich hatte sie aufgegeben, letztes Jahr waren sie viel früher. Diesen Winter haben Krähenschwärme ihre Plätze besetzt und im Sonnenuntergang schreiend die Starenflüge parodiert. Zwei dieser Krähen sitzen nun still im Baum über mir, gemeinsam schauen wir zu. Das Mäandern am Abendhimmel, das Niederlassen in den nackten Ästen, die plötzlich belaubt sind von mehrstimmigem Gesirr. Das abrupte Verstummen und Auffliegen der Masse – wie sie den Baum entlauben, einen Sturm über uns entfachen, Spiralen kreiseln, einen neuen heraneilenden Schwarm in sich aufnehmen, zurückkehren, sich fallen lassen, weiterlärmen …

Ich betrachte das Spektakel und erinnere mich an letztes Jahr. Wie wir hier standen und uns hypnotisieren liessen, frisch verwaistes Elternpaar. Wie eine Frau, die wir nicht kannten, stehen blieb und uns ansprach, sie habe gehört, was uns passiert sei, et cetera. Wir nickten wie betäubt, Blick zurück zu den Staren, die Frau setzte sich wieder in Bewegung und rief: «Aber seht es mal positiv …!»

Das war so unerwartet, so absurd, dass wir in Lachen ausbrachen. Es wurde unser Running Gag. Wenn die Dunkelheit uns zu verschlingen drohte, murmelten wir einander zu: «Siehs doch mal positiv.»

Neulich bin ich im Bücherbrocki auf Joan Didions «Das Jahr magischen Denkens» gestossen. Sie beschreibt die Zeit nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes und die Krankheit ihrer Tochter. Sie seziert ihre Trauer, versucht Ordnung zu schaffen in dem magischen Chaos, das der Tod ausgelöst hat. Obwohl unsere Verluste so andere sind, erkenne ich mich wieder.

Didion schreibt über die Angst vor dem Selbstmitleid und wie sie es «in den Griff zu bekommen» versucht. Sie beschreibt die Strategie, Selbstmitleid auszuschalten, indem sie bei anderen noch grösseres Leid sucht, um sich selbst wieder «glücklich» schätzen zu können. Mir dämmert, dass Mitleid vielleicht genau das ist: die Erhöhung der eigenen Situation durch das Leid anderer – und weshalb es sich so schlecht anfühlt, dem ausgesetzt zu sein. Dass es überdies den Trauerprozess anhält: Mitleid, gegenüber anderen wie sich selbst, ist Verharren im Leid. Mitgefühl hingegen geht mit, denkt mit, ist praktisch veranlagt: Was könnte helfen, das Jetzt erträglicher zu machen?

Didion liest in einem Etiketteratgeber von 1922, als der Umgang mit Tod und Trauer noch nicht von der «ethischen Pflicht, Spass zu haben» ins Verborgene verdrängt worden war. Davor waren die Abläufe klar: Wie sich verhalten bei der Beerdigung, «zur Heimkehr der Familie ein Feuer im Kamin machen», ihnen ungefragt Tassen mit heissem Tee und Brühe reichen – «wenn es ihnen vorgesetzt wird, werden sie es mechanisch zu sich nehmen, und etwas Warmes […] brauchen sie jetzt am nötigsten».

Didions Buch endet mit dem ersten Todestag ihres Mannes und der Erkenntnis, dass sie «diesen Bericht nicht zu Ende bringen möchte». Es fühlt sich falsch an, diesen Zyklus zu schliessen und einen neuen zu beginnen, neue Erinnerungen zu schaffen ohne die verlorene Person. Auch wir haben das erste Jahr geschafft, einmal um die Sonne. Und nun? Wie ich Didions Sätze lese, ist keine Zeit vergangen, kein Schmerz. Alles ist anders, alles ist gleich. Die Stare sind wieder da.

Michelle Steinbeck ist Autorin.