Chadia Atassi und Catherine Lovey – Literarischer Briefwechsel Die syrische Schriftstellerin Chadia Atassi und ihre Westschweizer Kollegin Catherine Lovey führen seit längerem eine literarische Korrespondenz. Dabei geben sich die Autorinnen jeweils selber ein Wort, über das sie in einem Brief reflektieren. Folgende Texte gewähren einen kleinen Einblick in ihr gemeinsames Schaffen.

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Gemälde aus der Serie «Memory Reunion», Mixed Media on Canvas, 2016: 97 × 130 cm, von Ala’ Hamameh
Ala’ Hamameh, «Memory Reunion», Mixed Media on Canvas, 2016: 97 × 130 cm

Linde

Nein, Chadia, beim Wort «Linde» sollst du dir nicht einen gelblichen, etwas süsslich schmeckenden abendlichen Kräutertee vorstellen. Und auch nicht einen dieser Bäume, wie sie hier in grosser Zahl manche Alleen säumen oder auf Dorfplätzen stehen, aufgereiht, zurechtgestutzt, überwacht, kurz: hübsch und brav.

Der Baum, von dem ich dir erzählen will, ist ein ausserordentliches Exemplar, das eher an einen dieser Menschen, Mann oder Frau, denken lässt, die manchmal in unserer Gesellschaft auftauchen und von denen man sich fragt, wo sie wohl herkommen, wie zum Teufel sie zu uns geraten sind, und die man bisweilen kneifen möchte, um zu überprüfen, ob sie wie alle anderen reagieren, ob sie keine Fata Morgana sind.

So war dieser Baum, eine sehr hohe, sehr einsame Linde – absolut einzigartig in ihrem Wesen –, die sich in meinem Herkunftsdorf befand.

Leider muss ich in der Vergangenheitsform sprechen.

Vor sechs Jahren machte ein Februarsturm ihr den Garaus. Mein Bruder Jean-Daniel ist der Einzige, der sich an Details erinnert, denn er, der Schreiner-Tischler von Beruf ist, hat sie am frühen Morgen entdeckt, wie sie zerschmettert da lag, und musste sich darum kümmern, den riesigen Körper wegzuschaffen.

Nach wie vielen Jahrhunderten hat unsere Linde die Seele ausgehaucht? Nach wie vielen Winterstürmen, die viel schlimmer wüteten als derjenige, der sie schliesslich zu Boden warf? Niemand kann es sagen. Und auch nicht, weshalb sie entschieden hatte, sich bei uns niederzulassen, in ungewöhnlicher Höhe für eine Spezies, die das Flachland bevorzugt. Und wie hatte sie es dann geschafft, so gut zu gedeihen, dass sie riesengross wurde? Bäume sind voller Geheimnisse. Manche, wie die Linde, erneuern sich von innen heraus, trinken aus ihrem eigenen Jungbrunnen. Aber offenbar kommt auch für sie die Zeit, da sie schliesslich genug haben. Und deshalb weniger wachsam werden.

Unsere Linde war eine massvolle Riesin. Man sah, dass sie auf Sparflamme lebte, nicht wie die dichten, runden Stadtmodelle, nein, diese hier hatte nie aufgehört, in die Höhe zu wachsen, ohne in der Breite ein Gramm zu viel anzusetzen. Es schien so, dass die Erde, aus der sie schöpfte, ihr genug gab, aber nicht überschwänglich, unvernünftig viel, nicht wie unsere Grossverteiler mit den tausend Joghurtsorten und Kekstüten, den unnötigen und verheerenden Plastikflaschen. Diese Linde war die Identität unseres Dorfes. Ihr besonderes Kennzeichen zeichnete uns alle. So kam es, dass wir ihr keine Aufmerksamkeit mehr schenkten. Sie war da, sie war immer da gewesen, das war alles.

Ich wage mir gar nicht vorzustellen, welche Schläge sie in jener Februarnacht einstecken musste. Hat sie sich wenigstens verteidigt?

Jetzt, da sie nicht mehr ist, verweisen meine Augen sie wieder an ihre Stelle. Jedes Mal, wenn ich ins Dorf zurückkehre, ist das meine erste Handlung, ich setze die Linde dahin, wo sie immer gestanden hat. Nackte Äste im Winter, beladene Äste im Sommer. Es ist kein schwieriges Unterfangen bei einem Baum, den man täglich angeschaut hat, eine ganze Kindheit lang.

Bei einem Menschen ist es viel komplizierter.

Catherine Lovey

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