Rassismus: «Für das Mädchen, das ich mal war»
Die Rassismusexpertin Anja Nunyola Glover fand keinen Verlag für ihr erstes Buch. Also brachte sie es selbst heraus – und landete einen Bestseller.

Es passiert nicht oft, dass ein Buch, das im Selbstverlag erscheint, kurz nach Veröffentlichung auf den Schweizer Bestsellerlisten landet und sich dort mehrere Wochen hält. «Was ich dir nicht sage» heisst dieses Buch, geschrieben hat es die Soziologin, Podcasterin und Rassismusexpertin Anja Nunyola Glover. Einen Verlag hat sie in der Schweiz nicht gefunden, die Absagegründe waren teilweise fadenscheinig. Ein Verlag gab beispielsweise an, man habe kürzlich «bereits ein Buch von einer Schwarzen Frau veröffentlicht». Mit einem Crowdfunding sammelte die Autorin dann fast 38 000 Franken für Lektorat, Gestaltung, Korrektorat und Druck – und veröffentlichte ihren Erstling in Eigenregie. Manch einer der angefragten Verlage dürfte die Absage heute bereuen.
Im stark autobiografisch gefärbten Buch nimmt Glover ihre Leser:innen immer wieder an der Hand, spricht sie mit «du» an. Sie beginnt mit einer Einladung und erklärt, an wen sie sich mit diesem Buch so direkt richte. Dieses Du sei zwar nicht immer dieselbe Person, schreibt Glover: «Aber du machst immer dasselbe, in allen Bereichen meines und deines Lebens. Du reproduzierst Rassismus und bewahrst dir dabei die Selbstwahrnehmung eines guten Menschen.»
«Woher kommst du?»
Es könnte jetzt unangenehm werden für die lesende Person, denn Glover hat nicht vor, zu erklären, was Rassismus ist, sondern sie will zeigen, was er macht. Und das gelingt ihr mit einer Mischung aus persönlichen Erlebnissen – unterfüttert mit historischer und gesellschaftlicher Recherche – und eben dieser direkten Ansprache der Leser:innen. Mal geht es in den kurzen Kapiteln darum, dass hautfarbene Strümpfe eben nicht für alle gleich gut zu beschaffen sind, mal darum, dass nicht alle gleich wütend, gleich laut sein dürfen.
Gegliedert ist das Buch in drei Teile: Verletzung, Identität und Heilung. Ganz zu Beginn ist das Du die Ergotherapeutin, die sich von Glovers Rückenschmerzen überrascht zeigt. Und das, obwohl Glover gerade drei Wochen mit zwanzig Veranstaltungen zum Thema Rassismus hinter sich gebracht hat. Der schmerzende Rücken begleitet uns immer wieder bis zum Ende des Buches. Und die Autorin schält somit gleich im ersten Kapitel heraus, was es bedeuten kann, wenn ärztliche Fachpersonen nicht auf dem Schirm haben, was die ständige Erfahrung von und Auseinandersetzung mit Rassismus mit dem Körper anstellen kann.
Auch über die Schweizer Medienszene und ihren oft unbeholfenen Umgang mit Rassismus und Diversität schreibt Glover. Sie erzählt von der Zeit, als die «Black Lives Matter»-Bewegung in der Schweiz ankam. Immer wieder klingelte damals bei ihr das Telefon, weil Journalist:innen ganz schnell ganz kurze, sehr prägnante Zitate wollten. Und gleich auf den allerersten Seiten erfahren wir von einem «Multimediamenschen», bei dem Glover die Idee für eine Sendung gepitcht hat. Eine Zusage erhält sie nie, eine Absage auch nicht. Nachdem er sie eine Zeit lang ignoriert hat, fordert er sie plötzlich auf, sich zur Diskussion rund um die Frage «Woher kommst du?» zu äussern – ein lebenslanges Schicksal, bitte schön zusammengefasst in einer klickbaren Headline. Als Glover absagt, verlangt der Multimediamensch von ihr, dass sie ihm stattdessen doch zwei, drei andere Namen von «Menschen wie ihr» nennen solle.
Massai im Regal
Wir lernen in diesem Buch auch eine alte Bekannte von Glover kennen, für die heute alle «zu woke» sind, die sich über Sprachpolizei und Cancel Culture beklagt. In ihrer luxuriösen Ferienwohnung hat diese Bekannte im Bücherregal gut sichtbar verschiedene Bildbände über unterschiedliche Menschengruppen ausgestellt: die Nomaden der Sahara, die Massai, Indonesier:innen. Es ist also nicht nur der verletzte Rücken der Autorin, der uns durch das Buch trägt, sondern unzählige kleine und grosse Formen von Rassismus im Alltag, in unseren gesellschaftlichen Strukturen, in der Geschichte und in Glovers eigener Geschichte.
Heilung findet die Autorin auf den letzten Seiten. Zumindest einen möglichen Anfang davon, denn wie sie schreibt, ist Heilung ein Prozess. Am Ende schreibt Glover auch darüber, wie es war, mit einer weissen Mutter aufzuwachsen, die immer wieder gefragt wurde, ob sie ihre Kinder adoptiert habe. Und wie diese Mutter ihr trotz allem die Furchtlosigkeit schenken konnte, die sie bis heute stützt. Sie habe lange gezögert, das alles zu teilen, schreibt Glover am Ende in einem Brief an «das Mädchen, das ich mal war». Das Du ist hier also sie selbst in jungen Jahren: «Ich weiss heute, dass all die Arbeit, die ich getan habe, für dich gewesen ist.»
Im Übrigen löst Glover auch ihr Versprechen ein, dass die Lektüre ihres Buches allenfalls unangenehm werden könne. Als weisser Mensch bekommt man mit «Was ich dir nicht sage» einen Spiegel vorgehalten. Einen, den es dringend braucht.
