Serie: Im Dampfkochtopf der Realität

«Sanitär Miller: freundlich, zuverlässig und professionell», heissts auf dem Kleinbus, der in der Einfahrt vor dem Haus steht. Es ist still im Wohnquartier morgens um sechs, bis eine Polizeieinheit vorfährt, die Haustür aufbricht und einen Dreizehnjährigen verhaftet, der eben noch in seinem Kinderzimmer mit nachtblauer Himmelstapete geschlafen hat. Er stehe unter Mordverdacht. Vater und Mutter Miller verstehen die Welt nicht mehr, der Junge schluchzt.
Da wähnt man sich womöglich noch in einem normalen, etwas hektischen TV-Krimi. Bis einem bei der Fahrt zum Verhör endlich auffällt, dass die ganze Folge ohne erkennbaren Schnitt auskommt. Die Kamera heftet sich an Hinterköpfe, Fahrzeuge und Gesichter, kann Räume nur verlassen, wenn sie mit jemandem mitgehen kann. Jede der vier je einstündigen Folgen der bereits vieldiskutierten neuen Netflix-Serie «Adolescence» besteht aus einem einzigen atemlosen Take; doch das bliebe eine blosse formale Spielerei, wenn wir nicht auch inhaltlich überwältigt würden.
Die Schauspieler:innen: alle herausragend. Voran der fünfzehnjährige Owen Cooper in seiner ersten Rolle überhaupt als angeklagter Teenie; Erin Doherty («The Crown») als Psychologin, die in der nervenzerrüttenden dritten Folge das Incel-Monster aus ihm herausholt. Der hochexplosive Vater wird vom beliebten britischen Krimiveteranen und Charakterkopf Stephen Graham gespielt, der auch Idee und Drehbuch von «Adolescence» mitverantwortet hat.
Die Settings bleiben unspektakulär – ein Verhörraum, eine Schule, ein Gefängnis, ein Einkaufszentrum –, zu Spezialoperationen und Minenfeldern werden die Seelen: diejenigen der Figuren, aber auch unsere. Auf dem Spiel steht viel mehr als die routinierte Klärung von Krimifragen (wer wars, wie und warum?): «Adolescence» ist eine ultrarealistische Simulation und Zuspitzung von sozialer Wirklichkeit. Brennpunkte sind die kaputte öffentliche Schule und die Verhetzungen und Verletzungen von Jugendlichen in den sogenannt sozialen Medien.