Zürich: Die Realität des Theaters: Die Stadt der müden Revolutionäre
Der Regisseur Peter Schweiger spricht über die Parteinahme und die Recherche in Georg Büchners Theaterstücken. Und fragt sich, warum Zürich nicht nachdrücklicher an ihn erinnert.
Dass Georg Büchner überhaupt der Verfolgung entkam, zeigt seine Hellsichtigkeit. «Er war klug und schnell genug, um die Gefahr zu erkennen», sagt Regisseur Peter Schweiger. Viele von Büchners Mitstreitern sind im Gefängnis gestorben. «Er wollte nicht wie andere Revolutionäre ein Held sein. Dafür war er nicht nur eine Portion klüger, sondern auch skeptischer.» Im Oktober 1836 kam er von Strassburg nach Zürich, wo er an der Universität über das Nervensystem von Fischen promoviert hatte. Im November wurde er als Privatdozent aufgenommen.
Peter Schweiger sitzt im Publikumsraum des Sogar-Theaters in Zürich. Das literarische Kleintheater befindet sich an der belebten Josefstrasse. «Zürich damals müssen wir uns als nettes Städtchen vorstellen.» Umso mutiger sei der Entscheid der Behörden gewesen, Büchner aufzunehmen. Gemäss einer Abmachung sollten politische Studenten an den Deutschen Bund ausgeliefert werden. Doch der Zürcher Bürgermeister und Polizeirat Johann Jakob Hess setzte sich darüber hinweg und erteilte Büchner – «diesem Topgesuchten, einem Staatsfeind erster Güte», so Schweiger – die Aufenthaltsgenehmigung. «Der Politiker hat im Augenschein der Not einer Person entschieden und nicht aufgrund eines abstrakten Paragrafen.» Darin liege durchaus ein historisches Vermächtnis für die heutige Flüchtlingspolitik der Schweiz: «Dass sie sich in einer Krisensituation eines Besseren besinnt.»
Schweiger leitete in den Achtzigern das Theater am Neumarkt in Zürich und war später Schauspieldirektor in St. Gallen. 2001 bekam er den Reinhart-Ring, die höchste Auszeichnung für Theaterschaffende in der Schweiz. Mittlerweile 74 Jahre alt, inszeniert er wieder in der freien Szene, zuletzt die «Detektivgeschichte» von Imre Kertész. Schweiger, der Ingenieurswesen studierte, bevor er Schauspieler wurde, spricht politisch exakt und leidenschaftlich zugleich. Speziell wenn es um Büchner geht, den «Aussenseiter unter den Klassikern». Zu politisch für manche, zu radikal. «Ich habe gleich wieder Feuer gefangen, als ich ein paar Seiten gelesen habe.» Büchner, der Revolutionär, Flüchtling, Wissenschaftler. Der Dramatiker aber auch. Was zeigt sein Theater?
Gespür für das Zwiespältige
Bevor er St. Gallen verliess, hatte Schweiger die Stücke von Büchner als Trilogie inszenieren lassen. «Mit jedem Stück macht uns Büchner, der so jung gestorben ist, etwas Exemplarisches kenntlich.» Im «Woyzeck» über den gequälten Menschen, in «Dantons Tod» über die Widersprüche in der Politik und in «Leonce und Lena» über einen aufgezwungenen Zustand, aus dem man ausbrechen möchte und in den man fatalerweise zurückkehrt – in diesem Fall die Ehe.
«Wie ein Arzt hat Büchner die Menschen und ihre Abgründe abgehorcht, mit einem absoluten Gespür für das Reale, und das heisst für das Zwiespältige. Die entscheidende Lehre bei Büchner ist, dass etwas so ist und so. Nicht so, aber auch so.» Die Liberalen würden sagen: Etwas ist schlimm, hat aber auch Vorteile. Büchner würde sagen: Es ist schlimm und hat Vorteile. Es bleibt also schlimm. «Aus dieser Doppeldeutigkeit entstehen die Widersprüche, die Tragödien, vielleicht aber auch der Fortschritt. Büchner macht den Menschen weder grösser noch kleiner.»
Schweiger zeigt das am Beispiel von «Dantons Tod», dem Stück über die Französische Revolution: Die beiden Gegenspieler seien sehr differenziert gezeichnet, man dürfe deshalb nicht Danton auf den Genussmenschen und Robespierre auf den Bluthund reduzieren. Danton kann auch politisch fordernd sein, Robespierre ist auch ein gequältes Individuum. Hier werde der Unterschied von Büchner zu einem sogenannt engagierten Autor deutlich, der sich wohlmeinend mit aktuellen sozialen oder politischen Themen beschäftige. «Büchner gibt allem Widersprüchlichen Raum und rettet damit die existenzielle Dimension vor einer schnellen Erklärbarkeit. Oder wie es im ‹Danton› heisst: ‹Was ist es, was in uns hurt, stiehlt, lügt und mordet?›» Es sei die Aufgabe des Autors, die Fragen immer wieder dem Publikum zurück zu geben.
In seiner St. Galler «Danton»-Inszenierung hat Schweiger deshalb die Figur des St. Just, der oft nur als giftiger Zyniker dargestellt wird, auf einem Stuhl vors Publikum gesetzt, um ihn eindringlich seine Rede über die Revolution als Naturereignis halten zu lassen: Wie ein Erdbeben fordere sie ihre Opfer. «Da musste sich dann jede und jeder im Zuschauerraum selbst fragen, ob eine Leiche gleich eine Revolution infrage stellt.»
Büchner schlägt sich also nicht auf die Seite der einen oder anderen Figur. «Und doch hat er eindeutig Partei genommen, indem er nach der Würde der menschlichen Existenz fragte. Für ihn war klar, dass die Menschen nur das sein können, wozu sie von den Zuständen gemacht werden. Büchner hätte immer auf der Seite der Revolution gestanden, im Sinn eines Umsturzes von schlechten Verhältnissen.»
Die Gesichter gehen mit
Seinen Texten legte Büchner meist reale Stoffe zugrunde, die er ausführlich recherchiert hatte. Für «Woyzeck» etwa den Fall von Johann Christian Woyzeck, der 1821 in Leipzig seine Geliebte ermordete. Schweiger findet Regisseure spannend, die dieses Recherchemodell wieder aufnehmen, Milo Rau etwa, der einen Prozess über den Rassismus der «Weltwoche» inszenierte, oder Jean-Stéphane Bron, der filmisch eine Anklage der Stadt Cleveland gegen die Wall-Street-Banken durchspielte. Allerdings fehle diesen Beispielen die letzte Konsequenz, weil sie nur die Realität mit theatralischen Mitteln nachbildeten, sich selbst aber wenig als Theater kenntlich machten: «Das Theater tut gut daran, immer zu zeigen, dass es Theater ist. Bei Büchner geht das bis in den Text hinein. Im ‹Danton› heisst es, wenn die Masken fielen, würden auch die Gesichter mitgehen.»
Die Realität zeigt sich durch ästhetische Sondierungen. Schweiger: «Nur wenn das Theater nicht behauptet, es sei die Realität, kommt es ihr näher.» Das ist auch politisch zu verstehen. «Das Gefühl, gespielt zu werden und nicht selbst zu spielen, ist eine grundlegende politische Erfahrung der Moderne.» Das ohnmächtige Gefühl, alles sei bereits entschieden, ist nicht erst seit der Finanzkrise verbreitet, sondern war schon den französischen Revolutionären bekannt.
Was würde Büchner, käme er heute in die Finanzmetropole Zürich, sondieren? Vermutlich die ökonomischen Fragen, meint Schweiger. «So hellsichtig er war, konnte er doch nicht über seine Zeit hinausdenken.» Es sei später an Karl Marx und Friedrich Engels gewesen, die Produktionsverhältnisse in der Industrialisierung zu beschreiben. Ausgehend vom Weckruf «Friede den Hütten! Krieg den Palästen!» über dem «Hessischen Landboten» wäre Büchners Analyse heute wohl eindeutig. «Initiativen wie die zu einem Lohnverhältnis von 1:12 sind gut, doch sie schlagen den Sack und meinen den Esel. Warum geht man nur gegen die Manager vor und nicht auch gegen die Aktionäre als Eigentümer?», fragt Schweiger. «Selbstverständlich ist das nicht einfach, ein wenig Eigentümer sind wir ja alle.»
Zu Büchner selbst wird derzeit wenig sondiert in Zürich. Dem Komponisten Richard Wagner, der in diesem Jahr ebenfalls seinen 200. Geburtstag feiert, widmeten sich die Zürcher Festspiele. Büchner erhält demgegenüber weniger Aufmerksamkeit. Immerhin, einzelne Inszenierungen werden folgen. Was sagt es aus über die Stadt, dass sie nicht stärker an ihren Flüchtling erinnert? Schweiger kommt eine eindrückliche Aufführung von Christoph Marthaler in den Sinn, der 2003 im Schauspielhaus Zürich «Dantons Tod» mit ganz müden Revolutionären inszeniert hat, die ihre Sätze nur unter grösster Anstrengung aufsagen. «Es hat das Bild einer Gesellschaft vermittelt, die nicht weiss, wo sie die Revolution ansetzen soll.» Die «Marseillaise» entstand aus dem Klang von Rasierklingen, die einem Schauspieler herunterfielen. Zufällig, aus einer Ungeschicklichkeit heraus.