Personenfreizügigkeit: Endlich klare Sicht

Nr. 13 –

Um den freien Personenverkehr mit der EU zu bewahren, schliessen sich die Reihen gegen die SVP. Wie kam es dazu – und hält die Allianz?

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Symbolbild: Ausrüstung für eine Demonstration – ein Megafon und ein Blitz aus Karton
Zentrales Verdienst der Gewerkschaften: Der Lohnschutz in der Schweiz ist fürs Erste gesichert. Foto: Salvatore Di Nolfi, Keystone

Ist es ein kurzes Gewitter oder doch eine nachhaltige Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse – ein Bruch gar? Seit Ende letzter Woche jedenfalls wirkt die bis dahin dominante politische Kraft, die extrem rechte SVP, völlig isoliert.

Eine Klärung brachte die letzte Woche jedenfalls. Erst verkündete FDP-Präsident Thierry Burkart am Donnerstag, seine Partei werde die SVP-Initiative, die eine Beschränkung der Einwohner:innenzahl der Schweiz auf zehn Millionen fordert, entschieden ablehnen und ihr auch keinen Gegenvorschlag zur Seite stellen. Dabei war Burkart zuletzt noch stets auf hartem Rechtskurs, sobald es um Fragen zur Migration und zur Asylpolitik ging.

Neuer Realismus

Am Freitag dann verabschiedete der Bundesrat seine Botschaft zur SVP-Initiative: Auch er will sie ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung bringen. Zugleich vermeldete der Bundesrat den Abschluss der Verhandlungen zum Lohnschutz beim geplanten neuen Abkommen mit der Europäischen Union. Auf 13 Massnahmen haben sich Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände geeinigt, darunter Absicherungen gegen Dumpingfirmen aus der EU, neue Lösungen für Lohnkontrollen und eine Übersteuerung der bizarren EU-Spesenregeln. Eine 14. Massnahme hat der Bundesrat auf Wunsch der Gewerkschaften noch angefügt: ein verbesserter Kündigungsschutz für gewählte Arbeitnehmervertreter:innen. Endlich ein Bekenntnis, dass es ohne die Gewerkschaften und eine Absicherung des Lohnschutzes in der Europapolitik nicht geht.

Die Klärung steht für einen neuen politischen Realismus – auch in der Auseinandersetzung mit der SVP. FDP, Unternehmerverbände und Gewerkschaften scheinen einsichtig, dass ausgebaute Beziehungen zur EU angesichts geopolitischer Erschütterungen von fundamentaler Wichtigkeit sind. Und dass sich die SVP, die dem entgegensteht, nur mit klarer Kante bekämpfen lässt.

Das bekam vergangenen Sonntag Parteischwergewicht Magdalena Martullo-Blocher zu spüren. Bürgerliche Politiker:innen stellten in der «SonntagsZeitung» infrage, ob Martullo-Blocher im Vorstand des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse noch tragbar sei. Die SVP-Nationalrätin vertritt dort Scienceindustries, den nationalen Pharma- und Chemieverband. Dieser sprach sich öffentlich sehr deutlich gegen die SVP-Initiative aus und unterstützte zugleich die Lohnschutzmassnahmen.

Selbst Economiesuisse kritisierte die SVP am Freitag heftig. Noch im Dezember stimmte Präsident Christoph Mäder in deren Sound ein, als er in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» befand, eine Zuwanderung im sechsstelligen Bereich sei «einfach zu viel». Nun sagt Economiesuisse: «Die radikale Kündigungsinitiative gefährdet den bilateralen Weg und bedroht damit den Wirtschaftsstandort Schweiz.» Und rechnet vor, dass dem hiesigen Arbeitsmarkt aufgrund der demografischen Entwicklung in zehn Jahren fast 300 000 Vollzeitbeschäftigte fehlen werden – und über 150 000 weitere, sollte «unsere Wohlstandsentwicklung der letzten Jahre» fortgeschrieben werden.

Was ist da passiert? Was hat die Sicht geklärt?

Standhafte Gewerkschaften

Daniel Lampart, Chefökonom des Gewerkschaftsbunds, ist überzeugt: Es war die Standhaftigkeit der Gewerkschaften. «Wir haben seit 2018, als der Entwurf zum später verworfenen Rahmenabkommen vorlag, immer an der Forderung festgehalten, das Niveau des Lohnschutzes nicht abzuschwächen – trotz teils riesigem Druck aus Politik, Wirtschaft und auch den Medien.» Diese Standhaftigkeit habe sich bewährt, sagt Lampart. In letzter Zeit seien die Bilateralen III von mehreren Seiten unter Druck geraten: «Nicht nur politisch von der SVP mit ihrer Fundamentalopposition, sondern auch wirtschaftlich von EU-kritischen Gruppen wie Kompass Schweiz oder Autonomiesuisse», so Lampart.

Vor diesem Hintergrund sei sowohl den grossen Wirtschaftsverbänden wie auch dem federführenden Wirtschaftsdepartement klar geworden, dass es nicht ohne die Gewerkschaften gehe. «Die erfolgreiche Abstimmung zur 13. AHV-Rente hat unterstrichen, dass die Gewerkschaften den Unterschied machen können», sagt Lampart.

Auch SP-Kopräsident Cédric Wermuth hebt das zentrale Verdienst der Gewerkschaften für eine mögliche Mehrheit für die Bilateralen III hervor. «Fortschritte in der Europapolitik waren immer eng gekoppelt mit sozialen Fortschritten, die durch Links und die Gewerkschaften ermöglicht wurden.» Diese Errungenschaften seien weder in der Vergangenheit noch jetzt das Verdienst der Unternehmerverbände. Die Gewerkschaften hätten auch diesmal die Hände weit ausgestreckt. «In der Europäischen Union werden neu flächendeckende Mindestlöhne eingeführt, davon sind wir hierzulande weit entfernt», so Wermuth. Das heutige Abkommen erlaube daher keinen Spielraum mehr für Verschlechterungen. «Aber das vorliegende Resultat ist wohl das Beste, was unter den gegebenen politischen Umständen möglich ist.»

Der Stärke der Gewerkschaften steht die Schwäche der Wirtschaftsverbände entgegen. Diese seien so unzuverlässig wie nie zuvor und würden mal in die eine, mal in die andere Richtung kippen, sagt etwa Wermuth. Auch weil die SVP und deren Ideologie einflussreiche Verbände wie jenen der Baumeister oder den Gewerbeverband durchdringt. Letzterer will den Kompromiss zum Lohnschutz, der auch noch durchs Parlament muss, bereits wieder aufschnüren.

Diese innere Dissonanz wird derzeit noch übertönt. Etwa von Elisabeth Schneider-Schneiter, Mitte-Nationalrätin und Vorstandsmitglied von Economiesuisse: «Die SVP hat sich von der Konkordanz verabschiedet.» Sie stelle zwar zwei Bundesräte und trage eigentlich Regierungsverantwortung, aber mache nur Oppositionspolitik, ohne je Kompromisse einzugehen. «Das ist ihr Erfolgsmodell», sagt Schneider-Schneiter, aber es schade der Schweiz.

Verlässlicher Partner

Isoliert sei die SVP derzeit tatsächlich, stellt auch FDP-Nationalrat und Economiesuisse-Vorstandskollege Simon Michel fest. Nicht zuletzt, weil die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Initiative so gravierend wären, sei es nun zu einem breiten «Schulterschluss» gegen die SVP gekommen – zwischen den bürgerlichen und den linken Parteien ebenso wie zwischen den Gewerkschaften und den Wirtschaftsverbänden. Dazu musste aber erst in der FDP ein Gegenvorschlag von Michel selber abstürzen, der von Einwander:innen eine Gebühr für den Zutritt in die Schweiz verlangen wollte. «Man kann den Karren nicht halb an die Wand fahren», sagt dazu Cédric Wermuth und konstatiert: «Die FDP ist in der Realität angekommen.» Sie habe den Wert Europas wieder erkannt. Denn Europa zeige sich derzeit als einzig verlässlicher Partner.

Auch Lisa Mazzone, Präsidentin der Grünen, begrüsst es ausdrücklich, dass die FDP endlich Haltung zeige und sich klar gegen die SVP-Initiative positioniere. Sie bleibt aber skeptisch: «Mir fehlt das klare Bekenntnis von Parteichef Thierry Burkart zum Lohnschutz. Das ist eine Bedingung, um das Paket in der Bevölkerung durchzubringen.» Ausserdem führe der Freisinn eine grausame Kampagne gegen die Schwächsten in unserer Gesellschaft, gegen Asylsuchende und insbesondere Sans-Papiers, so Mazzone. «Mit einem harten Asylkurs, dem Treten gegen ganz unten, will die FDP die Wirtschaftsmigration aus der EU legitimieren.»

Für den Moment jedoch steht der Widerstand gegen die SVP – was sich in der politischen und medialen Debatte bemerkbar macht: Die lange ignorierte demografische Realität, dass immer mehr Pensionierte immer weniger Erwerbstätigen gegenüberstehen, ist endlich öffentliches Thema. Und damit auch ein anderer Blick auf die Zuwanderung. Nicht als Zumutung, sondern als Notwendigkeit.