Schweiz in Europa: Alles ganz naheliegend

Nr. 16 –

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Von Ost nach West misst die Schweiz 348 Kilometer, von Nord nach Süd bloss 220, insgesamt ist das Land nur rund 41 000 Quadratkilometer klein. Es ist also nicht allzu schwierig herauszufinden, wie es hinter der Grenze weitergeht. Und sonst gibt es auch noch mehr als tausend Berge, die höher als 3000 Meter sind, und sogar 48 Viertausender, von deren Gipfel Schwindelfreie unschwer erkennen: Die Schweiz liegt mitten in Europa.

Umso erstaunlicher ist es, dass die selbsternannten Heimatfreund:innen von der SVP diese Lage partout ignorieren. Den freien Personen- und Warenverkehr mit dem europäischen Binnenmarkt stellen sie seit Jahrzehnten infrage. Stattdessen halluzinierten sie zuletzt von einem Freihandelsabkommen mit den USA, brachten der Trump-Regierung dafür schon devot den Schmus. Zum Vergleich: 40,5 Prozent der exportierten Güter aus der Schweiz gehen in die EU, bloss 16,5 Prozent in die USA.

Mit einer Reihe von Initiativen versuchen die SVP und ihre Verbündeten derzeit, die Selbsttäuschung über die eigene Lage aufrechtzuerhalten. Die Wahlvehikel tragen wohlklingende Namen wie «Nachhaltigkeits-» oder «Kompass-Initiative». Gemeinsam ist ihnen, dass sie jegliche Annäherung an die EU unterbinden oder den freien Personenverkehr gar aufkündigen wollen.

Lange schien diese Drohkulisse Bundesrat und Parlament zu paralysieren. Doch innert weniger Wochen hat sich die Ausgangslage radikal verändert. Das Fenster für eine europäische Öffnung der Schweiz bei gleichzeitiger sozialer Absicherung steht plötzlich weit offen.

Drei Gründe haben zu dieser Wende geführt. Erstens haben sich die Gewerkschaften und die Wirtschaftsverbände unter Vermittlung des Bundesrats auf Massnahmen zum Lohnschutz bei den Bilateralen III mit der EU verständigt. Zweitens beschloss die FDP, dass sie die «Nachhaltigkeits-Initiative», die eine Beschränkung der Einwohner:innenzahl der Schweiz auf zehn Millionen fordert, ohne Gegenvorschlag bekämpft. Auch der Bundesrat sieht davon ab, ein solcher würde nur die SVP-Beschwörung einer angeblichen Überbevölkerung verstärken. Mutmasslich gab sowohl in der Partei wie auch in der Regierung Karin Keller-Sutter den Ausschlag für diese ausnahmsweise klare Positionierung der Freisinnigen gegen die SVP. Drittens hat die trumpsche Zollerpressung vor Augen geführt, dass die Schweiz ihre Partner:innen besser in der Nachbarschaft sucht.

Eine offensive Bekämpfung der SVP-«Nachhaltigkeits-Initiative», die zuerst zur Abstimmung kommen wird, wie auch der erfolgreiche Abschluss der Bilateralen III liegen damit in Reichweite. Sofern der Bundesrat und das Parlament jetzt den Prozess beschleunigen und die Vorlagen zügig beraten. So könnten sie noch vor dem Wahlkampf 2027 vors Stimmvolk gelangen – und der Weg wäre frei für andere Themen fern der SVP-Agenda.

Allerdings gibt es noch einen Knackpunkt. Nur wenn das Paket zum Lohnschutz als Ganzes unbeschädigt durchs Parlament kommt, können die Gewerkschaften die neuen EU-Verträge ihren Mitgliedern gegenüber glaubwürdig vertreten. Ansonsten drohen sie abgelehnt zu werden. Eine entscheidende Rolle wird auch hier die FDP spielen. Aus Angst um ihre zwei Bundesratssitze dürfte sie ihren rechten wie ihren progressiveren Flügel zufriedenstellen wollen, womit eine Aufschnürung des Pakets droht. Bereits haben sich einzelne Hardliner gegen die Massnahmen in Stellung gebracht, flankiert von der NZZ. Was die FDP und ihr Zentralorgan zur Räson bringen könnte, ist eine einfache Frage: Wird die Partei nicht gerade im Windschatten der SVP bedeutungslos?

Ein Testfall für einen offensiven Kurs wird der Entscheid des Bundesrats, die Bilateralen III dem Ständemehr zu unterstellen oder nicht. Das Bundesamt für Justiz zeigte die Gründe dagegen klar auf. Dass der SVP wie den «Kompass»-Milliardären das undemokratische Ständemehr so wichtig ist, zeigt auch eine gewisse Not. Bei der SVP mag man die Lage der Schweiz zwar nicht immer so genau kennen. Wenigstens scheint man gemerkt zu haben, dass die Mehrheit der Bevölkerung wiederholt für eine gute Zusammenarbeit mit den europäischen Nachbar:innen stimmte.