Debatte: Beenden wir die Geldsackneutralität!
Die Schweiz trägt eine Mitverantwortung für die Zerstörung der Ukraine. Sie muss endlich die Alimentierung von Putins Kriegskasse stoppen – und sich für das Völkerrecht starkmachen.
Abgesehen vom Zweiten Weltkrieg gibt es keinen Krieg, mit dem die moderne Schweiz derart verflochten war und ist wie mit Wladimir Putins Angriff gegen die Ukraine. Allein aus den beiden wichtigsten Geldquellen, den Rohstoffhandelszentren Zug und Genf, dürften Hunderte von Milliarden nach Russland geflossen sein. Leicht vergessen geht auch, dass Putin bis heute Bomber, Raketen und Munition mit St. Galler und Berner Spezialmaschinen baut. Pazifismus in der Schweiz bedeutet deshalb zuallererst: Kampf der Fütterung von Kriegen – mit Geld, aber auch mit Gütern!
Das sprengt die gängige Einengung des Begriffs «Pazifismus» auf die Frage der Gewaltanwendung. Für einen Pazifismus, der sich nicht primär als Mittel der Gewaltlosigkeit versteht, sondern über das Ziel des Weltfriedens definiert, gehört der Kampf gegen Autoritarismus und Unterdrückung, erst recht gegen das Füllen von Kriegskassen, zu den Kernthemen. Dazu passt auch das 1901 von Émile Arnaud, dem Präsidenten der Ligue internationale de la paix et de la liberté, geschaffene Kunstwort «pacifisme». Es setzt sich zusammen aus den lateinischen Wörtern «pax» (Frieden) und «facere» (machen). Pazifismus heisst in seiner ursprünglichen Bedeutung «Frieden stiften».

Dieses Stiften von Frieden kann in Extremfällen auch den Einsatz von Waffen bedeuten. Es brauchte die Armeen der Alliierten, um die Welt von den Nazis zu befreien. In den sechziger Jahren gab es in der Friedensbewegung kaum Kritik an den sowjetischen und chinesischen Waffenlieferungen für Vietnam. Was für die USA galt, gilt heute für Russland. Ein Erfolg von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine wäre ein Rückschlag für den Frieden, und zwar weltweit. Um das zu verhindern, ist die Ukraine auf Nato-Waffen angewiesen.
Die falsche Diskussion
Was bedeutet all das für die Schweiz? Das heutige Neutralitätsrecht, das ohne Volksabstimmung nicht verändert oder aufgegeben werden kann, gebietet die Gleichbehandlung beider Seiten in der Waffenfrage. Rüstungsmaterial darf also aus der Schweiz nur an beide oder an keine Seite weitergegeben oder vermittelt werden. Hätte die Schweiz Waffen geliefert oder vermittelt, hätte es auch keine Bürgenstock-Konferenz gegeben, die von der Ukraine sehr geschätzt wurde.
Wie marginal eine Weitergabe von Schweizer Waffen zudem wäre, illustriert die Tatsache, dass die in Zug domizilierte Novatek, die russisches Flüssiggas handelt und bis heute nicht sanktioniert ist, allein letztes Jahr acht Milliarden US-Dollar in Putins Kriegskasse spülte. Das entspricht dem 900-fachen Gegenwert der 12 400 Schuss Flakmunition, über deren Weitergabe an die Ukraine wir seit Beginn des russischen Angriffskriegs reden.
Als Rohstoffhandelsgrossmacht spielt die Schweiz sicherheitspolitisch eine derart bedeutende Rolle, dass alle anderen Aspekte ziemlich nebensächlich erscheinen. Könnte Putin seinen Krieg noch finanzieren ohne die Hunderte von Milliarden, die ihm seit dem Erdgasstreit 2006 mit der Ukraine und seit der Krim-Annexion 2014 aus der Schweiz zugeflossen sind und weiter zufliessen? Könnte Putin noch Bomber, Raketen, Munition gegen die Ukraine einsetzen ohne die unersetzlichen Spezialmaschinen, die er allein zwischen 2016 und 2022 erhielt? Die gelieferten Maschinen produzieren weiter, sie kennen keine Sanktionen.
Die letzten drei Jahre redete die Schweiz über das, was sie nicht darf, um nicht darüber zu reden, was sie tun könnte und müsste: die Putin-Aufrüstung stoppen und der Ukraine die nötige Finanzhilfe liefern. Ausgerechnet die medial gerne als «Ukraine-freundlich» gefeierte Mitte-Partei hat die von Mathias Zopfi vorgeschlagenen fünf Milliarden Franken für die Ukraine im Juni 2023 abgelehnt. Und vorletzte Woche auch einen entsprechenden Vorschlag von Fabian Molina.
Dieser Rückschlag ändert nichts an der Stichhaltigkeit des Arguments: Mit der andauernden Alimentierung von Putins Kriegskasse, mit der Lieferung von Dual-Use-Gütern nach Russland trägt die Schweiz eine Mitverantwortung für die Zerstörung der Ukraine. Deshalb bleibt sie besonders gefordert für den Wiederaufbau, um Multimilliardenhilfe zu leisten.
Der überholte Alleingang
Wie steht es nun um die Sicherheitslage der Schweiz selbst? Wer heute von der Gefahr eines dritten Weltkriegs redet, hat keine grosse Ahnung vom Ersten und Zweiten Weltkrieg. Putin ist eine grosse Gefahr für die ukrainische, aber auch die russische Bevölkerung. Er wird die russischen Minderheiten in den baltischen Staaten benutzen, um Unruhe und Unsicherheit zu schaffen. Er wird den Cyber War ausbauen. Und die Desinformation intensivieren – mit der Hilfe seiner zahlreichen rechtskonservativen und linksstalinoiden Komplizen wie Donald Trump und Viktor Orbán, Alice Weidel und Sarah Wagenknecht, Roger Köppel und Konsorten. Aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass er einen Frontalangriff gegen die Nato wagt. Putin ist nicht einmal fähig, Kiew oder das in seiner direkten Nähe liegende Charkiw zu erobern.
Die Schweiz ist durch Putin militärisch nicht bedroht – auch dank der Nato. Sie ist allerdings von Cyber War, Spionage, Desinformation betroffen. Dagegen braucht es durchaus mehr Mittel. Was die Luftpolizei betrifft, reichen zwölf Jets, die rasch aufsteigen und schnell fliegen können. Der in den USA bestellte F-35, in dessen Cockpit letztlich Donald Trump und Elon Musk sitzen, ist zu einem Sicherheitsrisiko sondergleichen geworden. Die Grundlage jeglicher Sicherheitspolitik, die diesen Namen verdient, ist ein Zurückkommen auf diesen Megafehlentscheid.
Allen Leuten, die in keiner finanziellen oder sentimentalen Abhängigkeit zur Armee stehen – auch wichtigen Teilen der Militärführung –, ist klar: Der Alleingang ist überholt. Die bewaffnete Neutralität ist ein Auslaufmodell. So hat auch der bisherige Chef der Armee, Thomas Süssli, erklärt, dass sich die Schweiz allein nicht mehr nachhaltig verteidigen könne.
Politik und Militär versuchen nun, den Alleingang und eine Nato-Annäherung zu verbinden: Panzer für die SVP und F-35 für die FDP. Diese Verdoppelung ist praktisch unsinnig und finanziell superteuer. Hinter dem Zauberwort der «Nato-Kooperation» steckt der «Bau von Luftschlössern», wie schon der verstorbene NZZ-Redaktor Bruno Lezzi in seinem Buch «Von Feld zu Feld» festgestellt hat. Lezzi plädierte deshalb für den Beitritt zur Nato, der zwangsläufig mit der Abschaffung der Neutralität einhergeht.
Seine Überlegungen sind rational, aber nicht zwingend. Denn es gibt eine andere rationale Option: Die Schweiz verwandelt die heutige Geldsackneutralität in eine umfassende Friedens- und zivile Sicherheitspolitik im nationalen wie im internationalen Rahmen von Uno, OSZE und auch EU. Und schafft eine Armee ab, die nur im Rahmen der Nato Sinn ergibt. Das Sinnvollste, was die Schweiz heute tun kann, ist stattdessen die Stärkung der Uno und des Völkerrechts. Sie bleiben der Schlüssel für den Weltfrieden. Dazu braucht es mehr Geld, eine mutige Diplomatie und eine Haltung, die keine Rücksichten auf fremde Mächte und eigene Gewinne nimmt.
Der Zuger Historiker Josef Lang (70) gehört zu den profilierten Friedens- und Sicherheitspolitikern der Grünen. Er ist Mitglied im Vorstand der GSoA und Stiftungsrat von Swisspeace.
Bei diesem Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung eines Referats, das Josef Lang kürzlich beim SP-Quartierverein Spalen in Basel hielt.