Sicherheitspolitik: Der drohende Kontrollverlust
Die Schweizer Rüstungsindustrie will gelockerte Exportbestimmungen. Ihr Ziel: der lukrative Markt im Nahen Osten. Ausgerechnet die sonst rüstungskritische SP könnte dem Anliegen zum Durchbruch verhelfen.

Die Exportgeschäfte mit Schweizer Kriegsmaterial verlaufen seit einiger Zeit weitgehend skandalfrei. Das ist eine zentrale Erkenntnis des WOZ-Rüstungsreports aus den vergangenen fünf Jahren. Der Grund dafür ist simpel: Die Gesetzgebung und das damit verbundene Kontrollregime funktionieren. Das war nicht immer so. Anfang der nuller Jahre reihte sich Skandal an Skandal: Schweizer Panzerhaubitzen landeten unerlaubterweise in Marokko; Waffenlieferungen in den Irak sowie nach Indien und Pakistan waren aufgegleist.
Erst ein entschiedenes Eingreifen des Parlaments, namentlich von SP und Grünen, sowie Druck aus der Zivilgesellschaft, insbesondere über die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA), sorgten in der Folge für strengere Kontrollpflichten, etwa eine stärkere Gewichtung der Menschenrechtslage. Im Oktober 2021 konnte dieselbe Allianz gar eine weitere Verschärfung der Kriterien bei Kriegsmaterialexporten erreichen – zum Entsetzen der Rüstungsindustrie (siehe WOZ Nr. 40/21).
Powerplay von Swissmem
Vier Monate später, im Februar 2022, fiel Russland in die Ukraine ein. Der völkerrechtswidrige Angriff war eine Zäsur. Die Sicherheitspolitik rückte schlagartig ins Zentrum der politischen Debatte. Und plötzlich stand die Schweizer Rüstungsexportpolitik im internationalen Fokus. Mehrere europäische Länder – Deutschland, Dänemark und Spanien – ersuchten den Bundesrat in den Monaten nach der russischen Invasion um Erlaubnis, aus der Schweiz erworbenes Kriegsmaterial an die Ukraine weitergeben zu dürfen. Das lehnte der Bundesrat kategorisch ab, die aktuelle Gesetzgebung und neutralitätsrechtliche Verpflichtungen würden dies verbieten.
Vor diesem Hintergrund machten sich die beiden Sicherheitspolitischen Kommissionen im Parlament daran zu klären, ob und wie europäische Wiederausfuhren von Schweizer Kriegsmaterial an die Ukraine künftig möglich wären – auch unter Wahrung der neutralitätsrechtlichen Verpflichtungen. Diesen Sommer, nach einem fast zweijährigen Geknorze, legten die beiden Kommissionen endlich einen Vorschlag zur Änderung des Kriegsmaterialgesetzes (KMG) vor und schickten diesen in die Vernehmlassung, die noch bis zum 21. Oktober läuft. Was auffällt: Der Vorschlag ist praktisch identisch mit jenem, den der mächtige Maschinen-, Elektro- und Metallindustrieverband Swissmem Ende 2023 in der NZZ einforderte.
Konkret sollen Wiederausfuhrverbote von hierzulande eingekauftem Kriegsmaterial an Drittstaaten für 25 Länder aufgehoben werden, darunter viele EU-Mitglieder sowie Argentinien, Australien, Grossbritannien, Kanada, Neuseeland und die USA. Dies allerdings erst nach einer Frist von fünf Jahren – Swissmem hätte lieber zwei Jahre gehabt. Der ganze Änderungsvorschlag war umstritten, am Ende gab die zuständige Kommissionspräsidentin per Stichentscheid den Ausschlag: die Zürcher SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, die drei Jahre zuvor noch entscheidend an der letzten KMG-Verschärfung mitgewirkt hatte.
SP gegen Grüne
«Die SP hat es sich nicht leicht gemacht mit dieser Entscheidung. Aber wir sind davon überzeugt, dass man der Ukraine auf allen Ebenen helfen muss», sagt Priska Seiler Graf auf Anfrage. Ihr wäre es lieber gewesen, der Bund hätte selber über eine Bewilligung zur Wiederausfuhr entscheiden können; es sei den zuständigen Kommissionen von Völkerrechtler:innen aber klar dargelegt worden, dass das aus neutralitätsrechtlichen Gründen nicht gehe. Sie selber, sagt Seiler Graf, sehe es als «gemeinsame, europäische Aufgabe, der Ukraine zu helfen».
Nun ist es so, dass die Ukraine unmittelbar auf Rüstungsgüter, allen voran Munition, angewiesen ist, um sich verteidigen zu können. Die geplante Gesetzesänderung dürfte frühestens 2026 beschlossen werden; nach der Vernehmlassung muss das Parlament zustimmen, danach ist eine Referendumsabstimmung ziemlich wahrscheinlich. Nach Inkrafttreten kommt die Fünfjahresfrist zum Tragen. Vor 2030 bringt die vorliegende Revision der Ukraine also nichts. Seiler Graf sieht diesen Punkt. Sie hoffe sehr, dass der Krieg gegen die Ukraine vorher zu Ende sei; leider aber sehe es danach aus, dass er länger dauern könnte. Doch «falls die Ukraine den Krieg nicht gewinnt, wird Russland vermutlich auch andere Länder überfallen. Dann werden wir froh sein, dass wir das Kriegsmaterialgesetz schon geändert haben.» Für die SP-Sicherheitspolitikerin ist klar: «Der Rüstungsindustrie nützt diese Öffnung nicht viel», es handle sich ja um Kriegsmaterial, das schon vor Jahren verkauft wurde. Und Weitergaben seien nur in einem klar definierten, engen Bereich möglich.
Marionna Schlatter, Grünen-Nationalrätin, Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission und ebenfalls zentrale Akteurin der KMG-Verschärfung vom Herbst 2021, sieht das entschieden anders: «Die Verabschiedung internationaler Sanktionen gegen Russland, die Teilnahme an der Oligarchen-Taskforce oder die Schaffung eines humanitären Hilfs- und Wiederaufbaufonds hätten der Ukraine viel mehr gebracht.» Leider habe das Parlament alles abgelehnt und die ganze Energie auf die Frage der Wiederausfuhr gelenkt. Der nun vorliegende Vorschlag sei «für die Ukraine irrelevant, dafür für die Rüstungsindustrie weitreichend». Die Schweiz gebe damit «die Verantwortung für ihre Rüstungsgüter nach einer Frist von fünf Jahren völlig aus den Händen». Das grösste Problem sieht Schlatter in Saudi-Arabien: Die 25 Staaten, in die dereinst Kriegsmaterial geliefert werden könnte, hätten «keine gemeinsame Position zur Menschenrechtssituation in den Golfstaaten, hingegen sehr grosse finanzielle Interessen, diesen Rüstungsmarkt zu beliefern».
Wem nützt die Änderung?
Grosse Bedenken hinsichtlich der KMG-Revision bestehen auch jenseits der Politik. Evelyne Schmid, Professorin für Völkerrecht an der Universität Lausanne, sieht aus völkerrechtlicher Sicht «mindestens drei Probleme». Erstens wären Möglichkeiten der Schweiz geschwächt, den gemeinsamen Artikel 1 der Genfer Konventionen zu erfüllen: «Diese Bestimmung verpflichtet alle Staaten, für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu sorgen. Wenn man die Kontrolle über die Weitergabe von Kriegsmaterial aus der Hand gibt, schwinden natürlich auch die Möglichkeiten, sich dafür einzusetzen, dass das humanitäre Völkerrecht eingehalten wird.» Zweitens schwäche der Vorschlag den bestehenden völkerrechtlichen Vertrag zum Waffenhandel ATT. Dessen Sinn und Zweck bestehe eben gerade auch darin, dass die Staaten ihre Rüstungsexporte kontrollierten, sodass unerwünschte Weitergaben nicht oder zumindest nicht oft stattfinden können.
Als drittes Problem nennt Schmid die «grosse Gefahr, dass die Empfängerländer das Menschenrechtskriterium bei der Weitergabe von Schweizer Kriegsmaterial zu wenig streng auslegen». Es sei hinlänglich bekannt, dass gewisse Länder nur wenig Zurückhaltung an den Tag legten. Als Beispiel erwähnt sie Grossbritannien, das «in ganz grossem Stil in die Golfstaaten, speziell nach Saudi-Arabien, Rüstungsgüter exportiert». Dieser «Kontrollverlust» sei bedenklich.
Priska Seiler Graf sieht «diesen Kontrollverlust», sagt aber: «Nüchtern betrachtet, kann man ihn verantworten.» Es handle sich ja um demokratische Länder, die unsere Werte teilten und ähnliche Kontrollregimes hätten. «Warum sollten sie ‹schlechter› entscheiden als die Schweiz?» Ihre Partei stehe hinter dieser Änderung, auch wenn es intern kritische Stimmen gebe. Bleibt abzuwarten, ob diese Haltung der SP über die Vernehmlassung hinaus Bestand haben wird. Die entscheidende Frage ist schliesslich, wem die geplante Änderung mehr nützt: der Ukraine oder der hiesigen Rüstungsindustrie?