Klimastreik: «Wir waren naiv»

Nr. 14 –

Hunderttausende nahmen 2019 an Klimademonstrationen teil. Was ist davon geblieben? Ein Gespräch mit Chronist:in Cyrill Hermann.

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Portraitfoto von Cyrill Hermann
«Der Staat weigert sich, den Klimaschutz voranzutreiben. Die Bewegung muss sich fragen, wie wir damit umgehen»: Cyrill Hermann.

WOZ: Cyrill Hermann, der Klimastreik hat in den letzten Jahren an Aufmerksamkeit eingebüsst. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Cyrill Hermann: Der Klimastreik ist Teil der Klimagerechtigkeitsbewegung, die nach ihrem Hoch 2019 aufgrund verschiedener weltpolitischer Krisen stetig an Aufmerksamkeit und folglich an Einfluss verloren hat. Wir merkten, dass unsere Praxis nicht mehr auf die Gesellschaft wirkte: Streiks und Demonstrationen sind zwar nützlich, um auf ein Thema aufmerksam zu machen, doch sie allein reichen nicht aus, um konkrete Forderungen durchzusetzen. Deshalb liegt unser Fokus momentan auf internen Prozessen: Seit etwa einem Jahr gibt es schweizweite Strategietreffen. Es wird also Neues aus der Bewegung kommen.

WOZ: Was bräuchte es denn, um Forderungen durchzusetzen? Ein radikaleres Vorgehen?

Cyrill Hermann: Der Staat weigert sich, den Klimaschutz voranzutreiben. Die Bewegung muss sich fragen, wie wir damit umgehen. Inhaltliche Radikalität erachte ich als sinnvoll. Es wird innerhalb dieses Systems nicht gelingen, die Klimakrise zu bewältigen. Ob es auch radikalere Aktionsformen bräuchte – da bin ich mir persönlich nicht sicher. Diese wären zwar legitim, aber vielleicht strategisch nicht sehr klug. Im Moment arbeitet die Bewegung eher an einer breiteren Organisierung als an kurzfristigen Aktionen.

Ein halbes Leben im Streik

Cyrill Hermann (21) ist Klimaaktivist:in und Student:in.

Anfang Jahr veröffentlichte Hermann das Buch «What do we want» (Rotpunktverlag), das sich der Bewegungsgeschichte des Klimastreiks widmet – auch aus globaler Perspektive. Dafür hat Hermann unter anderem Interviews mit Aktivist:innen aus der Arktis und Uganda geführt.

WOZ: Wir führen dieses Gespräch via Zoom. Wo sind Sie gerade?

Cyrill Hermann: Ich bin in Bakur, im Osten der Türkei, also in Kurdistan. Mit einer Delegation von Leuten aus dem Klimastreik, Greenpeace, den Jungen Grünen und anderen Gruppen. Der türkische Staat greift im Kampf gegen die kurdische Minderheit immer wieder auf ökologische Kriegsführung zurück: Er brennt Wälder ab oder errichtet Staudämme, wodurch wichtige Dörfer und Städte überflutet werden. Die lokale Bevölkerung spricht von Ökoziden, weil ganze Ökosysteme, wo seit Tausenden Jahren Menschen leben, zerstört werden. Wir sind hier, um das zu dokumentieren, um uns mit der lokalen Bewegung zu vernetzen und um von ihren Kämpfen zu lernen.

WOZ: Wie haben Sie zum Klimastreik gefunden?

Cyrill Hermann: Anfang 2019, als die Klimademos immer grösser wurden, bin ich mit Leuten aus meiner Sekundarklasse das erste Mal zu einem Klimastreik gegangen. Ich wollte sofort mitwirken. Dann ging alles ziemlich schnell: Zuerst war ich in einzelnen Arbeitsgruppen dabei, und als 2020 der Lockdown begann, wurde ich auch auf nationaler Ebene aktiv.

WOZ: Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Cyrill Hermann: Vor der Pandemie waren über ein Jahr hinweg extrem viele Leute auf der Strasse – in Bern etwa haben 100 000 Menschen an einer Klimademo teilgenommen. In Bezug auf unsere Forderungen hiess es damals ständig, diese seien zu teuer oder wir müssten uns gedulden. Wir wurden immer wieder vertröstet und nicht ernst genommen. Während der Pandemie konnte der Bund aber plötzlich das Leben von vielen Menschen schnell einschränken und viel Geld sprechen. Vielen aus unserer Bewegung wurde klar, dass der Staat eigentlich schnell handeln könnte. Das war sehr eindrücklich, und wir fühlten uns verraten. Intern hielten wir an Projekten fest, die wir schon vorher begonnen hatten, etwa dem Climate Action Plan oder dem Strike for Future.

WOZ: Der Climate Action Plan zeigt auf, mit welchen Massnahmen die Schweiz netto null bis 2030 erreichen kann. Im Herbst vor einem Jahr haben Sie einen lokalen Climate Action Plan für die Stadt Zürich präsentiert. Was ist seither passiert?

Cyrill Hermann: Zusammen mit Wissenschaftler:innen der ETH und der Universität Zürich haben wir untersucht, was für die Stadt aktuell am wichtigsten ist, und uns dann auf zwanzig konkrete Forderungen geeinigt. Letzte Woche konnten wir die erste als Motion durch den Gemeinderat bringen: ein Werbeverbot im öffentlichen Raum. Das ist momentan unser grösster Erfolg als Klimastreik Zürich. An unserem Plan lässt sich aber auch gut erkennen, dass die Bewegung deutlich radikaler und antikapitalistischer geworden ist. Eine der Forderungen beispielsweise betrifft die Enteignung von Boden.

WOZ: Mit diesen Entwicklungen haben Sie sich auch in Ihrem Buch «What do we want?» beschäftigt. Wie hat das Buch Ihre persönliche Sicht auf die Bewegung verändert?

Cyrill Hermann: Manchmal frage ich mich, warum wir in manche Projekte so viel Zeit investiert haben – vor allem in solche, bei denen im Nachhinein klar ist, warum sie nicht funktionierten. Ein Beispiel dafür ist auch der Climate Action Plan. Wir haben über anderthalb Jahre hinweg intensiv mit über sechzig Wissenschaftler:innen zusammengearbeitet. Wir dachten, dass es der Regierung an Vorschlägen mangelt; dass wir einfach einen Plan veröffentlichen müssen, der dann von selbst umgesetzt wird.

Cyrill Hermann: Im Rückblick hätten wir jedoch viel mehr Wert darauf legen müssen, die Bewegung zu stärken. Massnahmen sind wichtig, aber letztlich braucht es den Druck der Bewegung, um diese auch durchzusetzen. Die ersten zwei Jahre des Klimastreiks waren sehr appellativ. Wir haben uns gewünscht, dass die Regierung und die Wirtschaft handeln. Wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, habe ich das Gefühl, wir waren naiv. Aber vielleicht war genau diese Naivität nötig – zwei, drei Mal gegen die gleiche Wand zu laufen, um zu erkennen, dass die Verantwortlichen Profit über Menschen stellen und nicht handeln wollen.

WOZ: Wann hat der Klimastreik das Vertrauen in die institutionelle Politik verloren?

Cyrill Hermann: In meinem Buch beschreibe ich das Beispiel von Lützerath in Deutschland – für viele in der Bewegung ein Wendepunkt. Rechtlich gesehen war es nicht in Ordnung, das Dorf abzureissen. Wissenschaftler:innen erklärten, dass die Energie aus der Kohlegewinnung für die Energiesicherheit nicht benötigt wird, und es gibt Studien, die belegen, dass mit dem Verbrennen der Kohle das Pariser Klimaabkommen für Deutschland nicht mehr einzuhalten ist.

Cyrill Hermann: Die lokale Bevölkerung war dagegen, und trotzdem setzte die Regierung das Vorhaben zugunsten des Energiekonzerns RWE durch. Damit stellte sie wirtschaftliche Interessen über alles andere – auch über das Leben auf unserem Planeten. In diesem Moment haben wir realisiert, dass es den Regierungen nicht darum geht, das Gemeinwohl zu stärken, sondern vielmehr darum, den kapitalistischen Status quo so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.

WOZ: Der politische Druck von rechts ist derzeit gross. Was für Strategien braucht es jetzt?

Cyrill Hermann: Ich glaube, darauf hat noch niemand eine Antwort gefunden. Im Globalen Norden, wo rechte Bewegungen erstarken, ist es derzeit sehr schwierig, sich für Klimagerechtigkeit zu engagieren. Es ist ein Schock, dass viele unserer vermeintlichen Erfolge nur zu kurzfristigen Lippenbekenntnissen führten, ohne dass tiefgreifende Veränderungen möglich wurden. Unternehmen kündigten Reduktionsziele an, internationale Banken schlossen sich in einer Klimaallianz zusammen – jetzt werden diese Massnahmen und Ankündigungen wieder zurückgenommen. Trump kündigte nun zum zweiten Mal das Pariser Klimaabkommen.

Cyrill Hermann: Man merkt, dass die Bewegung auf den Strassen schwächer wird. Gleichzeitig nehmen Gewalt und staatliche Repression gegen Aktivist:innen zu. Immerhin gibt es einige inspirierende Beispiele, die uns Hoffnung geben.

WOZ: Woran denken Sie?

Cyrill Hermann: Die Linke in Deutschland hat bei den letzten Bundestagswahlen eine Vielzahl an Organisierungstaktiken erfolgreich angewendet, darunter Haustürwahlkämpfe und die Mobilisierung von Aktivist:innen. Ihr Ziel ist es, eine langfristige linke Bewegung in Deutschland aufzubauen. Ich glaube, davon kann man viel lernen.

Cyrill Hermann: Fridays for Future Italien hat ein inspirierendes Projekt ins Leben gerufen: Eine Autofabrik in der Nähe von Florenz sollte in den Globalen Süden verlagert werden. Doch die Bewegung hat gemeinsam mit den 140 Angestellten die Fabrik besetzt, um die Produktion auf Lastenräder und Solarpanels umzustellen. Das entspricht der Theorie des Labour Turn: Wir müssen die Arbeiter:innen in den CO₂-intensiven Sektoren organisieren und uns die Produktionsmittel aneignen, um gemeinsam auf klimafreundlichere Produktionsweisen umzuschwenken.

Cyrill Hermann: Eine andere Welt ist möglich, ohne dass die Ärmsten oder die Arbeiter:innen die Hauptlast tragen. Im Moment verfolgt auch der Klimastreik Schweiz ein ähnliches Ziel in Bezug auf die Entlassungen im Stahlsektor. Dort arbeiten wir eng mit den Gewerkschaften zusammen und führen eine gemeinsame Kampagne. In den kommenden Jahren wird sich zeigen, welches Potenzial in diesen Ansätzen steckt. Bis dahin probieren wir einfach weiter aus.

WOZ: Am 11. April finden in der ganzen Schweiz wieder Demonstrationen im Rahmen des Globalen Klimastreiks statt – im Zeichen der Klimagerechtigkeit.

Cyrill Hermann: Klimagerechtigkeit ist ein Gegennarrativ zur Klimakrise. Während Letztere oft mit dem Szenario eines absoluten Kollapses verbunden wird, der das Leben für alle schlimmer macht – besonders für diejenigen, die bereits diskriminiert sind –, geht es bei Klimagerechtigkeit um die Vision einer Welt, die für viele besser wird. Soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wir müssen uns nicht entscheiden.

WOZ: Was erwarten Sie von diesem Tag?

Cyrill Hermann: Politisch erwarte ich nicht sehr viel. Ich freue mich auf eine bunte Demo, gute Stimmung, auf schöne Momente mit Gleichgesinnten – vielleicht auf zehn neue Schüler:innen, die im Anschluss aktiv werden wollen.

Buchcover von «What do we want? Der Klimastreik – von Systemwandel bis Klimagerechtigkeit»
Cyrill Hermann: «What do we want? Der Klimastreik – von Systemwandel bis Klimagerechtigkeit». Rotpunktverlag. Zürich 2025. 272 Seiten.