Nach dem Klimastreik: Die Bewegung erwacht aus dem Coronaschlaf

Nr. 21 –

Lange war es ruhig um den Klimastreik. Mit dem «Strike for Future» meldet sich die Bewegung zurück. Wie hat sie die Coronapause überstanden? Und was hat sich inzwischen verändert?

«Unser Klima!»: Demonstration am «Strike for Future»-Tag in Zürich. Foto: Ennio Leanza, Keystone

Der grosse Zeiger der Zürcher Bahnhofsuhr springt auf 11.59 Uhr. Zwischen den Menschen, die von A nach B hetzen, hat sich am Freitag vergangener Woche eine kleine Gruppe mit Fahnen positioniert. Ein Mann hält einen Trichter an seinen Mund: «Wessen Klima?», brüllt er hinein. «Unser Klima!», ruft die Gruppe um ihn herum. Zur selben Zeit radelt eine Velodemo durch Davos; in Lenzburg läuten die Kirchenglocken eine Minute früher als üblich. Und auf Telegram macht eine Nachricht die Runde: «11:59 – Wir schlagen Alarm». Der Klimaalarm ist da, die Geburtsstunde des «Strike for Future».

Die grösste Umweltbewegung der Schweiz hat in den letzten drei Jahren vieles geschafft, wenngleich realpolitisch noch wenig durchsetzen können. Sie brachte an einem einzigen Tag, dem 28. September 2019, nach Eigenangaben 100 000 Menschen auf die Strasse. Sie verfasste den landesweit ersten konkreten Massnahmenplan, um bis zum Jahr 2030 einen CO2-Ausstoss von netto null zu erreichen. Und sie verwandelte die Nationalratswahlen 2019 in «Klimawahlen». Die Grünen legten damals mehr als sechs Prozent zu, die Grünliberalen mehr als drei Prozent. Und selbst die Grosswirtschaftspartei FDP versuchte, sich ein grünes Antlitzchen zu verleihen. Doch dann: die Pandemie. Und die fehlende Möglichkeit zur Mobilisierung über die Strasse.

Mit dem «Strike for Future» erwacht die Bewegung aus dem Coronaschlaf. Was will der Streik?

Global denken, lokal handeln

Jonas Kampus und Lena Bühler sitzen an einem Abend vor dem Aktionstag vor ihren Bildschirmen und geben der WOZ Auskunft. Beide sind seit den Anfängen dabei. Bühler (18), Gymischülerin aus Bern, denkt aus dem Lokalen heraus. «Ich lege mich lieber auf Prozesse fest als auf Endziele.» Für den «Strike for Future» besetzt sie den Parkplatz ihrer Schule. Kampus (20), VWL-Student und politischer Sekretär der GSoA, protestiert zur gleichen Zeit vor dem Sitz eines Waffenproduzenten. Er kommt aus dem Grossen ins Kleine, vernetzte sich früh international. In den sozialen Medien bezeichnet er sich inzwischen als Ökoanarchist. «Das beschreibt meine Ideologie am besten.»

Der «Strike for Future», sagt Bühler, funktioniere über zwei Ebenen: erstens über den Zusammenschluss mit Gewerkschaften, NGOs, mit dem Frauenstreik und den Kirchen und zweitens über die lokale Verankerung der Bewegung – «an Bildungsinstitutionen, an Arbeitsplätzen, in Vereinen und vor allem auch in Quartieren und Dörfern». Rund 160 Lokalgruppen des Klimastreiks soll es in der Schweiz inzwischen geben.

Stunde fünf nach dem Klimaalarm. «Wessen Zukunft?», ruft Paula Mussio in Bülach in ein Megafon. «Unsere Zukunft!», antworten einige der rund achtzig Menschen, die hinter ihr durch die verkehrsberuhigte Altstadt ziehen. Schon 2019 hatte die damals Elfjährige in der Kleinstadt eine Klimademo mitorganisiert. «Das Tierwohl war mir schon immer wichtig», sagt Mussio, die auch Mitglied der Umweltgruppe ihrer Schule ist. «Mit Greta Thunberg habe ich mich dann breiter mit dem Thema befasst.» Aus der losen Gruppe, die damals die Demonstration organisiert hatte, wurde die lokale Klimastreikgruppe Zürcher Unterland – und Leute aus dieser haben eine der dezentralen Aktionen am «Strike for Future» organisiert.

Auch wenn es in Bülach einzelne nachhaltige Organisationen gebe: «Die Bevölkerung hier ist nicht sonderlich daran interessiert, etwas zu verändern», sagt Mussio. Bülach. Eine Stadt zwischen Agglomeration und regionalem Zentrum, die politisch rechtsbürgerlich geprägt ist. Wie reagieren Menschen hier, wenn man ihnen den Spiegel vorhält? «Manche in meinem Alter finden es lachhaft», sagt Mussio. «Andere hören interessiert zu, planen aber schon die nächste Shoppingtour.» Wiederum andere seien durch sie und ihre MitstreiterInnen auf die Klimakrise aufmerksam geworden.

Auch darum sei es ihr wichtig, den Gedanken in ihren Heimatort zu tragen. «Die Menschen hier müssen merken, dass wir in einer Krise sind», sagt sie und zieht weiter. Vorbei am Volg, vorbei an der Metzgerei Angst, vorbei an den AnwohnerInnen, die den bekannten Gesichtern aus den Fenstern zuwinken. «Was ruft sie?», fragt eine Frau im Demozug. «System change not climate change», antwortet eine andere.

Was ist radikal?

Der Klimastreik radikalisiere sich, heisst es von immer mehr Seiten. Letzten Sommer beteiligte er sich an der Besetzung des Bundeshausplatzes. Einzelne Klimastreikende wurden inzwischen wegen ihrer illegalen, aber gewaltfreien Aktionen gegen den Bankenplatz verurteilt. Und in diesem Frühjahr unterstützte die Bewegung in der Waadt die erste illegale «Zone à défendre» (ZAD) der Schweiz (siehe WOZ Nr. 13/2021 ). Trotz des Konsenses zum kollektiven Gewaltverzicht: Bei der Räumung des besetzten Hügels flogen Steine in Richtung Polizei.

«In der Bewegung hat es schon eine Verschiebung gegeben», sagt Jonas Kampus. Auch wenn die Forderung nach einem Systemwandel schon immer da gewesen sei: «Der Kapitalismus wird kritischer gesehen.» Und Lena Bühler ergänzt: «2019 hätten wir uns noch nicht getraut, die ZAD zu unterstützen. Wir dachten, jeder Schritt in eine möglicherweise falsche Richtung schade uns.»

Inzwischen seien es drei Stränge, die die Bewegung prägten. Erstens der Strang, der mit Aktionen wie dem «Strike for Future» die lokale Verankerung vorantreibe. Zweitens der Strang, der sich wie bei der Besetzung des Bundeshausplatzes dem zivilen Ungehorsam widme. Und drittens jener, der sich direkten Aktionen wie der ZAD verschreibe. «Bei diesem wissen wir noch nicht, wie er sich in der Schweiz weiterentwickelt», sagt Bühler.

Doch eine Radikalisierung? «Schwierig», sagen beide. Und sowieso, das Ziel sei immer gleich geblieben: netto null bis 2030. Die Umstände aber, die hätten sich verändert. «Die Zeit rennt uns davon», warnt Kampus. Das wirke sich auf die Mittel aus, die noch zum Ziel führen könnten. Kampus verweist auch auf die Reaktion der Politik auf die Pandemie: «2019 hatten wir noch die grösste Demonstration der Schweizer Geschichte organisiert. Und nur ein halbes Jahr später rettet der Bundesrat ernsthaft eine Fluggesellschaft.» Ein Augenöffner. Für ihn persönlich lasse diese Erfahrung nur eine logische Schlussfolgerung zu: «Kommt es hart auf hart, wird uns die institutionelle Politik immer verraten.» Lena Bühler fasst zusammen: «Wir gehen Dinge inzwischen strategischer und zielgerichteter an.»

Die Haltung der Gewerkschaften

Stunde sieben nach dem Klimaalarm. Auf dem Zürcher Helvetiaplatz steht ein Bagger, um ihn herum versammeln sich an die 5000 Menschen – Klimastreikende, Gewerkschaften, Frauenstreikende. «Wer keine Maske trägt, wird von der Demo verwiesen», tönt es aus einem Lautsprecher. 30 000 Menschen sollen an diesem Tag schweizweit am Streik teilgenommen haben, trotz Regen. «Es ergibt Sinn, alle linken und sozialen Kämpfe zu verbinden», sagt Dimitri Aich, kurz nachdem er eine rote Fahne an der Baggerschaufel befestigt hat. «Schlussendlich haben wir das gleiche Ziel: eine Welt, die für alle lebenswert ist.»

Der 31-Jährige arbeitet als Projektleiter für Kampagnen und Kommunikation bei der Gewerkschaft Unia, leitet dort auch die neu entstandene Arbeitsgruppe Klima. Der Klimastreik kam schon 2019 auf die Gewerkschaften zu, die Argumentation war simpel: Die Klimakrise ist die Krise aller Krisen. «Die Probleme werden kommen», sagt Aich dementsprechend. «Und die Menschen werden kommen.» Gemäss einem Bericht des Thinktanks Institute for Economics and Peace könnte die Klimakrise bis 2050 rund 1,2 Milliarden Menschen zur Migration zwingen. Das beeinflusse auch die Arbeitswelt, insbesondere den Niedriglohnsektor, sagt Aich – die Coronakrise habe wieder einmal gezeigt, wer bei Problemen zuerst unter die Räder komme. Der Bagger reiht sich in den Demonstrationszug ein. Auf einem Transparent steht «Global Revolution». Und auf Instagram fragt einer: «Was sind die genauen Forderungen des Strike for Future?»

Internationale Energieagentur : Zurückfahren, jetzt!

Die Internationale Energieagentur (IEA) hat vergangene Woche in einem aufsehenerregenden Bericht ein Szenario entwickelt, wie die Welt bis 2050 die Atmosphäre nicht mit zusätzlichen Treibhausgasen belasten würde. Eine Kernbotschaft darin lautet: Ab sofort dürfen keine neuen Öl- und Gasfelder mehr zur Ausbeutung erschlossen und keine Kohleminen neu errichtet oder erweitert werden. Zudem sollen ab 2025 neue fossil betriebene Heizungen verboten und ab 2035 keine neuen Benzin- und Dieselfahrzeuge mehr verkauft werden.

Dass ausgerechnet die IEA mit so einer Aussage kommt, überrascht. Bislang war die von dreissig Industriestaaten (darunter der Schweiz) getragene Behörde gegenüber der fossilen Industrie eher unkritisch und hatte das Potenzial der erneuerbaren Energien unterschätzt. Nun macht sie klar, dass die Staaten sofort handeln müssen, um das Pariser Klimaabkommen einzuhalten. Zwar hätten bereits viele Staaten klare Aussagen zu netto null getätigt, doch nur ein kleinerer Teil davon habe auch entsprechende Gesetze erlassen.

Das Szenario der IEA geht nicht von einer wirtschaftlichen Abschwächung aus. So würden dank der Umstellung auf nachhaltige Energieträger dreissig Millionen neue Arbeitsplätze entstehen und die Wirtschaft werde wachsen. Allerdings beruhen die IEA-Aussichten auf einer sehr optimistischen Einschätzung bezüglich des Einsatzes neuer Technologien. So brauche es bessere Batterien, den grossflächigen Einsatz von Wasserstoff und auch die grossindustrielle Abscheidung von CO2 aus der Luft. Ob Letzteres so umsetzbar sein wird, bleibt offen. Umso dringlicher ist es, die CO2-Emissionen jetzt sofort zurückzufahren.

Daniel Stern