Universität Bern: Wie Tibeter:innen unsichtbar gemacht werden
Die tibetische Diaspora wehrt sich vergeblich gegen das Canceln tibetischer Sprachkurse. Was steckt dahinter?
Es ist eine Entscheidung, die für Aufsehen gesorgt hat: An der Universität Bern wird es ab dem kommenden Herbstsemester keine Sprachkurse in klassischem Tibetisch und Mongolisch mehr geben. Damit beendet die einzige Hochschule der Schweiz, an der derzeit noch Sprachkurse in klassischem Tibetisch belegt werden können, dieses Angebot.
Hintergrund ist die Auflösung des Masterstudiengangs Zentralasiatische Kulturwissenschaft mit den Vertiefungen Tibet und Mongolei. Diese wurde bereits vor drei Jahren beschlossen, als die Pensionierung der dafür zuständigen Professorin, Karénina Kollmar-Paulenz, bevorstand. Nun wird der Studiengang Ende des Semesters eingestellt und – wie Ende Februar bekannt wurde – mit ihm auch die Sprachkurse für klassisches Tibetisch.
Bei Student:innen und Teilen der tibetischen Diaspora stösst der Beschluss auf Unverständnis. Mehrere tibetische Organisationen haben die Studienleitung kürzlich in einem offenen Brief dazu aufgefordert, ihre Entscheidung rückgängig zu machen.
Dafür spricht sich auch Tenzin Yundung aus. Die 33-Jährige ist eine der letzten Student:innen der Zentralasiatischen Kulturwissenschaft an der Universität Bern. Davor hat sie ein Masterstudium in Politikwissenschaften absolviert. Yundung kommt aus einer tibetischen Arbeiter:innenfamilie, ihre Eltern haben hart dafür gearbeitet, sich in der Schweiz ein finanziell unabhängiges und sicheres Leben aufzubauen. Die Freiheit, ein Studium rein nach Interessen zu wählen, hätten oft erst nachfolgende Generationen, sagt Yundung. Ebenso wie das Privileg, sich wissenschaftlich mit der eigenen tibetischen Identität auseinandersetzen zu können. Dazu gehört für Yundung auch das Erlernen von klassischem Tibetisch, der Schriftsprache, die bis heute für buddhistische Texte verwendet wird und sich vom modernen, gesprochenen Tibetisch unterscheidet.
«Viel Wissen geht verloren»
Seit der chinesischen Besetzung Tibets im Jahr 1950 wurde die Überlieferung der tibetischen Sprache und Kultur ins Exil verdrängt. Yundung fürchtet, dass es mit der Schliessung des Studiengangs nun für Tibeter:innen der dritten oder sogar vierten Generation in der Schweiz nicht mehr möglich sein werde, den wissenschaftlichen Diskurs zu Tibet mitzuprägen. Nirgendwo sonst in Europa leben so viele Exiltibeter:innen wie in der Schweiz. Anders als in den Nachbarländern soll ausgerechnet hier die Lehre ohne tibetische Sprachkenntnisse auskommen.
Yundung bedauert diese Entwicklung und wünscht sich, dass die Universität Bern den Zugang zu Tibetthemen weiterhin gewährleistet. Sie betont, dass der Studiengang Zentralasiatische Kulturwissenschaft wie die Tibetologie generell nicht nur für Tibet selbst von Bedeutung sei, sondern als interdisziplinäres Fach auch einen wichtigen Beitrag zum Verständnis globaler Kulturgeschichte, religiöser Traditionen und interkultureller Verflechtungen leiste.
Von einem «grossen Verlust für die akademische Landschaft» spricht auch Yannick Laurent, der an der Universität Bern klassisches Tibetisch unterrichtet. Laut Laurent sei es nicht gelungen, der Universität klarzumachen, wie einzigartig das Institut innerhalb der Schweizer Hochschullandschaft sei – und das trotz der konstanten Veröffentlichungen und eines anhaltenden Interesses der Studierenden. «Bei einer Abschaffung geht immer auch viel Wissen verloren», bedauert die emeritierte Professorin Karénina Kollmar-Paulenz, die den Studiengang 1999 aufgebaut hat. Sie weist darauf hin, dass gerade die Sprachkurse auch von angehenden Sprach- und Religionswissenschaftler:innen belegt und mit durchschnittlich fünf bis zehn Studierenden pro Jahr recht gut besucht worden seien.
Während ihrer Lehrtätigkeit habe die Auslastung der Sprachkurse stark variiert, so Kollmar-Paulenz. Laut dem Generalsekretär der Universität Bern, Christoph Pappa, sei die Zahl der Studierenden im Master Zentralasiatische Kulturwissenschaft mit eine:r Student:in pro Jahr tief geblieben. Das geringe Interesse erklärt er sich damit, dass Studierende bei der Fächerwahl Aufwand und Ertrag abwägen müssten. Da könne es zum Hindernis werden, in einem Studiengang zwei «komplexe Sprachen» wie Tibetisch und Mongolisch erlernen zu müssen. Eine Professur im Bereich der Zentralasiatischen Kulturwissenschaft koste die Universität jährlich 500 000 Franken. Besonders im Hinblick auf das Sparpaket des Bundes, das vorsieht, ab 2027 460 Millionen Franken im Bildungsbereich einzusparen, stehe man da unter finanziellem Druck.
Freude in der Botschaft
Während die Uni Bern die Sprachkurse für klassisches Tibetisch einstellt, wurde der chinesische Sprachkurs zu einem Nebenfach ausgebaut. Seit 2022 bietet das Institut für Sprachwissenschaft den Minor Chinesische Sprache und Gesellschaft an. Ein Zusammenhang bestehe aber nicht, beteuert Pappa. Die Abkehr der Universität von den Sprachkursen für klassisches Tibetisch und Mongolisch sei auch nicht auf chinesischen Druck zurückzuführen.
Auch der Chinaexperte Ralph Weber von der Universität Basel warnt davor, China vorschnell die Verantwortung für das Ende des Tibet-Studienangebots zuzuschieben. Er räumt aber ein, dass die Entscheidung in der chinesischen Botschaft bestimmt begrüsst worden sei. Weber hat kürzlich einen vom Bundesrat in Auftrag gegebenen Bericht zu chinesischer Repression in der Schweiz veröffentlicht, der aufzeigt, wie die tibetische und die uigurische Diaspora von Peking unter Druck gesetzt werden.
Je enger die Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz zu China würden, desto schwerer habe es hierzulande das tibetische Anliegen, sagt er. Hatte es bis anhin selbstverständlich einen Platz in der akademischen Welt, rückt Tibet durch das Ende des Studienangebots ein Stück weiter in den Hintergrund. Es entstehe ein «Sichtbarkeitsdefizit» der politischen Diskussion rund um Tibet.
Proteste unerwünscht
Eine Erfahrung, die auch Tenzin Yundung machen musste. Die ehemalige Präsidentin des Vereins Tibeter Jugend in Europa berichtet, dass Tibetorganisationen in den vergangenen Jahren zunehmend Schwierigkeiten hatten, Bewilligungen für Demonstrationen an Orten zu erhalten, die früher zugänglich waren. Während Tibeter:innen 1999 noch offen auf den Dächern der UBS in Bern gegen den Staatsbesuch von Chinas damaligem Präsidenten Jiang Zemin demonstrieren konnten, sah es bei einem chinesischen Staatsbesuch 2013 bereits anders aus: Im Rahmen einer Protestaktion kam es zwischen Tibetaktivist:innen und der Berner Polizei zu einem gewaltvollen Zwischenfall.
«Die freie Meinungsäusserung ist zwar sehr wichtig, aber im Moment ist die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens wichtiger», liess der Berner Polizeidirektor damals gegenüber SRF verlauten. Heute seien Demonstrationen vor der chinesischen Botschaft nicht mehr möglich, erzählt Tenzin Yundung. «Seit 2014 merkt man, dass wir Tibeter:innen weniger Platz haben.»
Theoretisch könne der chinesische Einparteienstaat abwarten, bis sich die tibetische Diaspora in der Schweiz von selbst auflöse, sagt Chinaexperte Weber. Denn eine kulturelle Identität im Exil am Leben zu halten, sei schwierig. Dass gerade in der Schweiz, wo eine der grössten tibetischen Gemeinschaften lebt, nun keine Tibetstudien mehr angeboten werden, ist deshalb besonders bitter.