Aufstand in Serbien: Die Altlasten der Geschichte

Nr. 29 –

Im Zuge der anhaltenden Proteste gegen die serbische Regierung sind auch nationalistische Töne lauter geworden. Wohin steuert die Bewegung?

Diesen Artikel hören (9:30)
-15
+15
-15
/
+15
Foto einer Demonstration in Belgrad am 30. Juni 2025
Nicht alle haben die gleiche Vorstellung, was aus dem Land werden soll: Demonstration in Belgrad am 30. Juni. Foto: Darko Vojinovic, Keystone

Es ist kurz nach neun Uhr abends, als von der Bühne auf dem Belgrader Slavija-Platz «grünes Licht» erteilt wird. 140 000 Menschen haben sich am 28. Juni in der serbischen Hauptstadt versammelt; es ist die zweitgrösste Kundgebung dieser Bewegung, die sich gegen Ende des letzten Jahres gebildet hat, um das klientelistische Machtsystem von Präsident Aleksandar Vučić herauszufordern. Den Studierenden, die seit November Fakultäten im ganzen Land besetzen und ihren Protest basisdemokratisch organisieren, haben sich im Lauf der Monate Menschen aus allen Schichten angeschlossen. «Nehmt eure Freiheit in eure eigenen Hände», erklingt es nun von der Bühne, «wir glauben an euch. Ihr habt grünes Licht!»

Was genau dieses Signal bedeutet, wird nicht ausgesprochen. Es ist die Antwort darauf, dass Vučić ein Ultimatum zur Ausrufung von Neuwahlen verstreichen liess. Hatte der Präsident in früheren Krisen noch auf Wahlen gesetzt, schreckt er diesmal davor zurück. Wohl aus Angst, sie auch auf betrügerische Weise nicht gewinnen zu können. Die Studierenden haben angekündigt, mit einer eigenen Liste antreten zu wollen – nicht, um dann dauerhaft selbst zu regieren, sondern um zunächst einmal Voraussetzungen für freie und faire Wahlen schaffen zu können. Aktuell sind solche undenkbar: Vučićs Fortschrittspartei (SNS) hat den Staat fest im Griff, die Justiz unter Kontrolle. Die meisten Medien verbreiten Regierungspropaganda.

Neue Aktionen – neue Repression

In den Tagen nach dem Grossprotest zeigt sich, dass viele Serb:innen das «grüne Licht» als Aufruf verstehen, nicht länger allein auf die Studierenden zu setzen, sondern selbst aktiv zu werden. Im ganzen Land formieren sich spontane Blockaden, es entstehen Nachbarschaftskomitees ähnlich den studentischen Plena. Man könnte auch von Räten sprechen.

In Belgrad etwa setzt sich die Strategie durch, Strassen mit Müllcontainern zu blockieren, sie von der Polizei räumen zu lassen – um dann gleich die nächste Strasse zu besetzen und die Einsatzkräfte so in Bewegung zu halten. Das System Vučić reagiert mit zahlreichen Festnahmen; in der westserbischen Stadt Užice versammelten sich am 13. Juli Tausende, um für die Freilassung von neun Aktivist:innen zu demonstrieren, woraufhin am Folgetag sieben wieder freikamen.

In Novi Pazar im Südwesten des Landes, einer mehrheitlich muslimisch-bosniakischen Stadt, nehmen die Menschen das «grüne Licht» zum Anlass, wiederholt und sehr langsam Zebrastreifen zu nutzen. So blockieren sie die Strassen, ohne gegen Gesetze zu verstossen. Die 22-jährige Aktivistin Džejlana, die auch an der lokalen Fakultätsbesetzung teilnimmt, erklärt: «Indem wir auf dem Zebrastreifen hin- und hergehen, machen wir deutlich, wie lange unsere Leben schon ‹auf Rot› stehen.»

Die Proteste und Besetzungen in Novi Pazar stehen sinnbildlich für den multiethnischen Charakter der ganzen Protestwelle: Unabhängig von Religion oder Herkunft kämpfen junge Menschen landesweit für Gerechtigkeit. Das kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch innerhalb der Bewegung Spannungen gibt.

Das Amselfeld auf dem Slavija

Das wird etwa sichtbar, als Studierende aus Novi Pazar vorschlagen, zum dreissigsten Jahrestag gemeinsam des Genozids in Srebrenica von 1995 zu gedenken. Sie stossen damit auf Widerstand; man fürchtet offensichtlich, an Unterstützung in der breiten serbischen Bevölkerung zu verlieren, da dort die Leugnung des Völkermords weit verbreitet ist. «Srebrenica ist eine Wunde, die in unseren Gemeinschaften noch blutet», sagt dazu Džejlana. «Versöhnung und Auseinandersetzung sind der einzig richtige Weg, Nationalismus führt uns auf den falschen.»

Umso auffälliger, dass ein anderer historischer Aufhänger von den Student:innen indes gezielt gewählt und genutzt wurde: Der 28. Juni, der «Vidovdan» (Veitstag), ist ein zentrales Datum der serbischen Geschichtsmythologie. Im Mittelpunkt steht dabei die Schlacht auf dem Amselfeld von 1389, die bis heute als serbisches Opfer zur Rettung Europas vor dem Islam gedeutet wird.

Und tatsächlich nutzen manche der Redner:innen auf dem Slavija den Anlass gezielt zur Anheizung von serbischem Nationalismus. Die erste Rede hält ein serbischer Student aus dem Kosovo, der den Bischof und Hitler-Verehrer Nikolaj Velimirović zitiert: Er spricht von einem riesigen Tempel, der sich aus den Knochen der in vielen Jahrhunderten geopferten Serben bauen lasse. Dann spricht ein Literaturprofessor von «serbischem Integralismus», einem Konzept, das stark der Idee eines «Grossserbiens» ähnelt. Und ein Elektrotechnikprofessor behauptet, im Kosovo fänden «genozidale Pogrome» gegen Serb:innen statt.

Es ist eine Rhetorik, die selbst den rechtsnationalistischen Präsidenten Vučić noch rechts überholt. Und die grundlegende Fragen zu Charakter und Strategie der gesamten Bewegung aufwirft. Spricht man mit Studierenden, die an der Organisation des Protesttags Ende Juni beteiligt waren, bekommt man zwei unterschiedliche Antworten zu hören: Die einen sehen im Nationalismus grundsätzlich kein Problem. Andere wiederum betonen, dass man jetzt eben alle mitnehmen müsse, um weiter Druck aufzubauen – und dass es wichtig sei, Vučićs Erzählung von angeblich aus dem Ausland gesteuerten «Verrätern» und «Terroristen» zu entkräften.

Diesem Argument steht Vladimir Arsenijević kritisch gegenüber. Der bekannte 59-jährige Schriftsteller aus Belgrad sieht Parallelen zu den Protesten in den neunziger Jahren, an denen er selbst teilgenommen hatte: Damals wurde Präsident Slobodan Milošević schlussendlich gestürzt, doch seine Anhänger:innen kehrten später an die Macht zurück. Heute herrscht mit Vučić der einstige Informationsminister Miloševićs.

Als am 15. März in Belgrad über 300 000 Menschen zur grössten Massendemonstration der jüngeren serbischen Geschichte zusammenfanden, habe er vier Flaggen mitgebracht, sagt Arsenijević: jene Georgiens, Palästinas, der EU und der Ukraine. «Besonders irritiert waren die Leute von der Ukraine- und der EU-Flagge, die in Serbien fast schon tabu sind», sagt Arsenijević. Er sei angefeindet und attackiert worden. «Dahinter steht eine widersprüchliche Mischung aus Hass, Enttäuschung und Misstrauen gegenüber der EU», so Arsenijević. Er warnt davor, solch zentrale Reizpunkte ganz einfach zu verdrängen. «Es heisst, jetzt sei nicht der richtige Moment für diese spaltenden Themen. Der richtige Moment werde schon kommen – nach dem Sieg, nach der Krise, nach dem Umbruch», sagt der Schriftsteller. «Aber dieser Moment kommt nie einfach so. Und so bleibt alles Wesentliche unangetastet.»

Kein Support aus Brüssel

Ihre Unbeliebtheit in Serbien haben sich die EU-Vertreter:innen auch selbst zuzuschreiben. Während etwa am 28. Juni über siebzig europäische Abgeordnete nach Budapest zur Pride reisten, blieb zum gleichzeitigen Protest im Nachbarland fast jede Reaktion aus. Dabei waren serbische Student:innen zuvor sogar mit dem Fahrrad von Belgrad nach Strassburg gefahren und nach Brüssel gejoggt, wo sie aber bloss von einer kleinen Gruppe Abgeordneter, darunter Sozialdemokrat:innen, Grüne, Linke und Liberale, empfangen wurden.

Am 15. März endete die riesige Kundgebung in Belgrad abrupt – mutmasslich aufgrund des illegalen Einsatzes von Schallkanonen. Videos zeigen, wie eine Massenpanik ausbrach. Doch auch da blieb der internationale Aufschrei aus. Und als sich Marta Kos, die EU-Kommissarin für Erweiterung, Ende April mit den Studierenden traf, hinterliess sie bei ihnen den Eindruck: Brüssel unterstützt Vučić, nicht die Proteste.

Das «grüne Licht», das die Studierenden nun gegeben haben, lässt sich auch als Zeichen der Erschöpfung deuten: Nach acht Monaten des Protests übertragen sie gewissermassen einen Teil der Verantwortung. «Jetzt führen Arbeiterinnen, Eltern, Ärzte, Lehrerinnen und Rentner die Bewegung», sagt Aktivistin Džejlana. «Es ist nicht mehr nur ein studentischer Aufstand, sondern ein bürgerlicher Kampf für ein normales Leben.»

Was unter diesem «normalen Leben» genau zu verstehen ist, dürften sehr viele Serb:innen sehr unterschiedlich beantworten. Nur in einem Punkt herrscht weiterhin Einigkeit: Es soll nicht länger ein Leben in einem Land sein, in dem sich ein korrupter Machtapparat auf Kosten der Allgemeinheit und von Menschenleben bereichert.