30 Jahre Gösgen: «Wir kommen wieder!»

Nr. 25 –

Das Atomkraftwerk war 1977 schon fast fertig gebaut, als die Anti-AKW-Bewegung eine ihrer grössten Aktionen startete. AktivistInnen erinnern sich.

«Um 15 Uhr 30 setzte sich der von einem Lautsprecherwagen aus offensichtlich straff organisierte Zug zum Marsch nach Gösgen in Bewegung (...) Viele der vorwiegend jüngeren Demonstranten waren mit Rucksäcken und Schlafsäcken ausgerüstet, und man beobachtete auffallend viele Frauen.» NZZ, 27. Juni 1977

Auch Filippo Leutenegger war da. Der Zürcher FDP-Nationalrat sagt an einem Juni-Nachmittag 2007 zu den Gösgen-Ereignissen von 1977: «Damals wie heute empfinde ich die ganzen Geschehnisse längst nicht so dramatisch. Bestimmt, jede Person erlebt dieselbe Situation anders. Aber grundsätzlich hat sich die Polizei korrekt verhalten. Natürlich, als die Leute die Geleise überquerten, ist das Ganze etwas ausser Kontrolle geraten. Wer hierfür allein der Polizei die Schuld in die Schuhe schiebt, macht es sich einfach. Mit so einer Situation muss man halt rechnen, wenn man die Staatsmacht provoziert.»

Kanton in Panik

2500 Menschen versammelten sich am 25. Juni 1977 in Olten und 6000 die Woche darauf. Das Ziel war, die Hauptzufahrtsstrasse zum Atomkraftwerk Gösgen in Däniken, Kanton Solothurn, zu besetzen.

Nach dem Pfingstmarsch einen Monat vorher, bei dem sich über 12 000 Menschen vor dem fast fertig gebauten Kernkraftwerk versammelt hatten, fühlte sich Solothurn durch die Widerstandsbewegung bedroht. Die Kantonsregierung berief sich auf Artikel 16 der Bundesverfassung: «Bei gestörter Ordnung im Inneren ... In dringenden Fällen ist die betreffende Regierung befugt, unter sofortiger Anzeige an den Bundesrat, andere Kantone zur Hilfe zu mahnen, und die gemahnten Stände sind zur Hilfeleistung verpflichtet.» Die heute gängige Praxis, Polizeikräfte aus der ganzen Schweiz oder gar dem grenznahen Ausland zur Zerschlagung von Demonstrationen zusammenzuziehen, war bis dahin noch gänzlich unbekannt. Aber sie kamen, die Polizisten, 950 Menschen in Kampfanzug. Und sie erwarteten die demonstrierende Masse mit einer geballten Ladung Tränengas. Bereit, das AKW Gösgen zu verteidigen, in das bereits zwei Milliarden Franken investiert worden waren. Denn wenn Gösgen fiele, dann wären auch Beznau und Leibstadt bedroht. Ein zweites Kaiseraugst durfte es nicht geben - dort war es AktivistInnen 1975 gelungen, elf Wochen lang das Baugelände zu besetzen.

Der linke Polizist

In der Polizeikohorte des Kantons Zug war auch Martin Brunold vom technischen Dienst. Am Morgen des 25. Juni um sieben hatten sich die Polizeikräfte der Innerschweizer Kantone unweit von Sempach im Luzerner Hinterland versammelt. In Gösgen seien die schweizerische Demokratie, der schweizerische Rechtsstaat zu verteidigen, hatte der Kompaniechef die Polizisten informiert. Martin Brunold war schon damals unwohl. «Man konnte sich ja gerade bei Gösgen fragen: wessen Recht? Und welche Demokratie?», erzählt er rückblickend. Tatsächlich wurde das AKW Gösgen ohne Mitsprache der Bevölkerung beschlossen und gebaut. Beschwerdeführer wurden von der Atomlobby unter Druck gesetzt, weitere Einsprachen wies man mit fadenscheinigen Begründungen ab. Noch bevor hängige Verfahren letztinstanzlich entschieden waren, begannen bereits die Bauarbeiten. Martin Brunold wurde beim Polizeigrosseinsatz als Fotograf eingesetzt. Ein Vorgesetzter gab ihm noch spezielle Instruktionen mit auf den Weg, denn man wusste bei der Zuger Polizei, dass der Brunold ein Linker sei: «Es hiess, ich solle so fotografieren, dass die Polizei in einem guten Licht dasteht», erzählt er. Das war allerdings kein einfacher Job. Bereits beim ersten Besetzungsversuch nebelte die Polizei die Atomenergie-GegnerInnen derart mit Tränengas ein, dass die beiden Kameras, die Brunold um den Hals trug, ihren Geist aufgaben.

Die Polizei startete einen weiteren Angriff. Ein umgebauter Armeeflammenwerfer versprühte ein Wasser-Tränengas-Gemisch. So bleibt die aggressive Flüssigkeit besser in den Kleidern hängen. Die BesetzerInnen rannten in die umliegenden Felder. Martin Brunold wurde angewiesen, einen Stein zu fotografieren, den die BesetzerInnen auf die Polizisten geworfen haben sollen. Irgendwann stand nur noch ein brennender Bus da. Er hatte Vreni Wullschleger und Werner Stocker gehört. Sie waren beide in der Kerngruppe der Gösgen-BesetzungsorganisatorInnen. Das vorangegangene halbe Jahr hatten sie nichts anderes gemacht, als den 25. Juni vorzubereiten: Flugblätter drucken, Sitzungen abhalten und aus Werners rotem Bus die Nachrichten des Piratensenders Radio Aktiv Freies Gösgen senden. Werner Stocker sollte später auch zu den Angeklagten gehören (und mit einer Geldbusse in Höhe von etwa 500 Franken bestraft werden). «Am ersten Besetzungstag sind wir schön dreingelaufen», erinnert sich Vreni Wullschleger: «Über uns kreiste die ganze Zeit ein Helikopter.» Und dann war da noch das Gefühl, beinahe zu ersticken wegen des vielen Tränengases. «Ich spürte gleichzeitig Ohnmacht und Zusammenhalt. Und am Ende riefen wir: 'Mir chöme wider!'»

«Zieht ab!»

Und sie sind wiedergekommen. Jetzt erst recht. Trotz des Aufrufs der Solothurner Regierung an die «besonnenen Mitbürgerinnen und Mitbürger», sich nicht in die «Gefolgschaft verantwortungsloser Elemente zu begeben», standen die AktivistInnen bereits eine Woche später, am 2. Juli, wieder bei Däniken. Wie schon beim ersten Mal verschrieben sich die 6000 DemoteilnehmerInnen der Gewaltfreiheit. Woran sich auch alle hielten - mit Ausnahme von «einigen betrunkenen paar Rockern», wie die «Solothurner Zeitung» schrieb. Von den betrunkenen Rockern distanzierte sich das Schweizerische Aktionskomitee gegen das AKW Gösgen (SAG) im Nachhinein. «Das war sehr wichtig», sagt Werner Stocker. «Wenn man eine Bewegung fertig machen will, dann sucht man Provokateure. Wir wussten das und setzten daher 150 Leute im Ordnungsdienst ein.» Der Zug war über einen Kilometer lang. Auf der Verbindungsstrasse Olten - Aarau rief der Regierungsrat Gottfried Wyss aus einem fahrenden Lautsprecherwagen: «Besetzung ist illegal. Das Gesetz verpflichtet uns, einzugreifen. Nur eine Minderheit der ansässigen Bevölkerung steht hinter euch - nicht das Volk. Ihr treibt ein Spiel mit Landfriedensbruch. Überlegt, was Gewalt für Folgen hat. Zieht ab!» Der letzte Versuch der Regierung, die BesetzerInnen von ihrem Vorhaben abzubringen, wurde mit vereinzelten Flaschenwürfen quittiert. Dieses zweite Mal sollten an drei strategischen Stellen die Zufahrtswege besetzt werden. Mit Barrikadenmaterial versperrten die angeblichen LandfriedensbrecherInnen die Strassen.

Fast eine Katastrophe

«Es waren keine besonders effizienten Barrikaden, es war mehr ein symbolischer Ausdruck, ganz im Sinne von 'No pasarán!'», erzählt Stefan Füglister, damals Sekretär der Gewaltfreien Aktion gegen das Atomkraftwerk Kaiseraugst (GAGAK) und Redaktor des Piratensenders Radio Aktiv Freies Gösgen. Die Härte des folgenden Polizeieinsatzes kam überraschend, auch wenn sich die meisten DemonstrantInnen mit Regenjacken, Schwimmbrillen oder Gasmasken ausgerüstet hatten. Vor allem in Däniken schien die Polizei fast von einer «Vernichtungsabsicht» getrieben zu sein, wie es Leo Scherer, damals in der Revolutionären Marxistischen Liga, ausdrückt. «Die Macht, die hinter der Atomlobby stand, war in diesen Tagen zum ersten Mal auch physisch wahrnehmbar.» Wahrscheinlich das erste Mal überhaupt schossen Schweizer Polizisten mit Gummischrot auf DemonstrantInnen. Von der Polizei zum Rückzug getrieben, sahen viele DemonstrantInnen keinen anderen Fluchtweg als über den Bahndamm und die Geleise, wo kurz darauf der Schnellzug Genf - Olten - Zürich vorüberbrauste. «Dass es nicht zur Katastrophe kam, ist schierer Glücksfall (...) Zwei Minuten früher, und der Zug hätte ein Blutbad angerichtet», schrieb die «Schweizer Illustrierte» am 4. Juli 1977.

Am darauffolgenden Mittag zogen die letzten BesetzerInnen freiwillig ab. Viele der DemoteilnehmerInnen trugen Verätzungen vom Tränengas-Wasser-Gemisch davon. Noch mehr hatten ein dauerhaftes Trauma. «Als Vertreter der Staatsmacht trage ich die Schuld mit», sagte sich der Polizist Martin Brunold schon damals. Fünf Jahre später quittierte er seinen Dienst - «ich war einfach fehl am Platz». Er schrieb später «Der Silberling», ein Buch über die Ereignisse in Gösgen.

«Natürlich hinterlässt so ein Erlebnis Spuren», sagt Stefan Füglister. «Das Bild vom geschlossenen Polizeikordon tut auch heute noch seine Wirkung und lässt einem die Lust auf eine Demo vergehen. Bei den Globuskrawallen 1968 waren die Polizisten noch nicht so anonym. Die sind noch hemdsärmelig herumgerannt. Die maskierten Polizisten, wie sie in Gösgen das erste Mal auftraten, kannte man damals nur aus dem Ausland. Doch die Spielarten der Macht hatten sich geändert, und hierzulande ging nun der Diskurs über den Polizeistaat los.»

Der Protest gegen Atomkraftwerke hingegen nahm nach den beiden heissen Junibesetzungsversuchen plötzlich ab. Nachdem sich anfangs mehrere 10 000 Menschen gegen das geplante AKW engagiert hatten, machte sich plötzlich Ernüchterung breit, nachdem der Widerstand ergebnislos geblieben war. Und das gemeine Volk, hatte es eine Meinung? Die «Basler Zeitung» schrieb Folgendes: «Auch nach dem Angriff in Däniken wandten sich empörte Zuschauer von der Strassenbrücke aus gegen die Polizei. Man machte sich mit Beschimpfungen Luft: 'Nazis' war etwa zu hören, und eine Gruppe aufgebrachter Däniker Bürger schrie 'Sieg Heil'.» Die Solothurner AZ wiederum resümierte: «Die Bevölkerung ist in ihrer Mehrheit nicht für Atomkraftwerke. Sie ist in ihrer Mehrheit auch nicht gegen Demonstranten. Und sie wäre in ihrer Mehrheit auch nicht gegen den Staat und dessen Ordnungshüter, wenn im Zweifelsfall nicht immer die Ordnung gehütet würde, sondern die Demokratie.»

Neun Jahre später

Am 30. Juni 1986 demonstrieren 30 000 Menschen vor dem AKW Gösgen. Neun Wochen zuvor war es zur Reaktorkatastrophe in Tschernobyl gekommen. Die Polizei hält sich im Hintergrund. Zehn Mal so viele Menschen wie im Juni 1977 scheinen keine Bedrohung für den Atomstaat mehr darzustellen. «Das war ein Gedenkmarsch und keine direkte Aktion, die eine Milliardeninvestition infrage stellt», sagt Leo Scherer und: «Die Besetzungsversuche in Gösgen hatten das Potenzial, die Inbetriebnahme des praktisch fertig gebauten AKW zu verhindern. Ich zweifle, dass heute so etwas noch möglich ist. Die politische Normalprozedur über das Referendumsrecht schwächt die Basisbewegung.»

Stefan Füglister: «Es gibt kein Rezept, eine Bewegung entstehen zu lassen.»

Werner Stocker: «Es braucht heute dringend wieder eine Bewegung. Wir leben in einer Zeit, in der AKW-Befürworter plötzlich grüner als grün sind und die Rede von der 'sauberen Atomenergie' wieder in vollem Gang ist.»




Chronik der «Schlacht um Gösgen»


12. Januar 1973: Die Gemeinde Däniken erteilt die Bewilligung für den Bau des AKW Gösgen.

Juni 1973: Die ersten Baumaschinen fahren auf.

28. bis 30. Mai 1977: Tausende von Menschen nehmen am Pfingstmarsch auf dem AKW-Gelände Gösgen teil. Bei der Schlusskundgebung versammeln sich rund 12000 Personen. Das noch zu gründende Schweizerische Aktionskomitee gegen das AKW Gösgen (SAG) erhält den Auftrag, die gewaltfreie Besetzung der Zufahrtswege vorzubereiten.

2. Juni 1977: 200 Personen nehmen an der Gründungsversammlung des SAG teil.

25. Juni 1977

14 Uhr: 2500 Personen versammeln sich vor der Friedenskirche in Olten.

15.30 Uhr: Der Demonstrationszug setzt sich in Bewegung und zieht, begleitet von einem Polizeihelikopter, über die Verbindungsstrasse Aarau-Olten nach Däniken.

18.45 Uhr: Der Demonstrationszug kommt vor einer Kette von Polizisten in Kampfausrüstung zum Stehen. Die Polizei fordert die DemonstrantInnen auf, sich zurückzuziehen.

19.00 Uhr: Nach der dritten Warnung feuert die Polizei massiv Gasgeschosse mitten in die Menge. Der Demonstrationszug weicht einige hundert Meter zurück, löst sich jedoch nicht auf.

20.45 Uhr: Wieder nach dreimaliger Warnung folgt ein noch härterer Gaseinsatz der Polizei, ein Wasser-Tränengas-Gemisch wird aus einem Armeeflammenwerfer versprüht. Die DemonstrantInnen ziehen sich nach Dulliken zurück, wo etwa 500 Personen auf dem Gelände des Bauernhofs eines SAG-Mitglieds übernachten.

26. Juni 1977: Eine Gruppe von drei Frauen und sechs Männern tritt in Dulliken in einen Hungerstreik, um gegen den Polizeieinsatz zu protestieren und die Forderung nach einem sofortigen Baustopp für alle AKW in der Schweiz zu unterstützen.

In einem Presscommuniqué wertet die SAG den Besetzungsversuch als Erfolg und distanziert sich von jenen DemonstrantInnen, die sich nicht an das gewaltfreie Konzept gehalten haben. Ein weiterer Besetzungsversuch wird für den 2. Juli angekündigt.

500 Personen demonstrieren in Olten vor der Aare-Tessin AG für Elektrizität (Atel), der Bauherrin des AKW Gösgen.

Die Polizei gibt bekannt, dass 950 Polizisten aus allen Kantonen bereitstanden, von denen 350 direkt zum Einsatz kamen.

27. Juni 1977: An der Generalversammlung der Atel erklärt der Verwaltungsratspräsident, im Bewilligungsverfahren für das AKW Gösgen sei das geltende Recht strikte angewandt worden. Darum sei es nicht zulässig, bei einem legal zustande gekommenen Werk von nationaler volkswirtschaftlicher Bedeutung, in welches 1,8 Milliarden Franken investiert worden seien, kurz vor der Vollendung ein Moratorium erzwingen zu wollen.

28. Juni 1977: Bei der Eröffnung der Junisession des Solothurner Kantonsrates werfen DemonstrantInnen von der Tribüne aus Flugblätter in den Saal und verlangen, dass sich der Kantonsrat vom Vorgehen der Polizei distanziert. Der Landammann teilt mit, dass der Regierungsrat allenfalls vor einem Demonstrationsverbot nicht zurückschrecken werde.

29. Juni 1977. 2000 Personen demonstrieren in der Zürcher Innenstadt gegen den Polizeieinsatz in Gösgen.

30. Juni 1977: Die SAG gibt bekannt, dass seit dem 27. Juni 20 000 Franken gespendet worden sind. Davon werden Flurschäden und andere durch die Demonstration entstandenen Schäden bezahlt.

1. Juli 1977: Zwei Dutzend «Polit-Rocker und Chaoten» («Solothurner Tagblatt») demonstrieren im Basler Grossen Rat gegen den Polizeieinsatz in Gösgen. Ausserdem wird der Einsatz der kantonalen Polizeikräfte in Gösgen in zwei Vorstössen kritisiert, der, wegen der jüngst erfolgten Annahme der Atomschutz-Initiative, dem Volkswillen nicht entspreche. Die Regierung entgegnet, dass sie zur geforderten Hilfeleistung verpflichtet sei.

Die Solothurner Regierung appelliert in einem Aufruf an die «besonnenen Mitbürgerinnen und Mitbürger», sich im Zusammenhang mit der geplanten Besetzung der Zufahrtswege des Kernkraftwerks Gösgen «nicht in die Gefolgschaft verantwortungsloser Elemente zu begeben».

2. Juli 1977

14 Uhr: 6000 Menschen besammeln sich vor der Friedenskirche in Olten.

16 Uhr: Der Zug setzt sich in Bewegung.

17 bis 18 Uhr: Drei Gruppen besetzen die Zufahrtswege in Dulliken-Schachen, beim Bahnhof Däniken und beim Postzentrum.

20 Uhr: Beim Postzentrum erfolgt der erste Einsatz der Polizei mit Tränengas und Gummischrot.

22 Uhr: Polizeieinsatz beim Bahnhof Däniken, die Demonstranten flüchten über die Geleise. Kurz darauf passiert ein Schnellzug den Bahnhof Däniken. Verletzt wird niemand. Polizei und SBB weisen sich gegenseitig die Schuld zu.

3. Juli 1977

5.30 Uhr: Die Polizei stellt den BesetzerInnen in Dulliken ein Ultimatum, greift aber nicht ein, als dieses verstreicht.

Am Nachmittag wird die Besetzung nach einem kurzen Demonstrationszug aufgelöst.

Die Polizei führt an der Pressekonferenz Wurfgeschosse vor, von denen die Polizei getroffen worden sein soll. Über deren Anzahl kann sie keine Auskunft geben. Gegen den Demonstranten und «Rädelsführer» A.F. wird ein Haftbefehl ausgesprochen, wegen Gewalt und Drohung gegen polizeiliche Anordnungen sowie eventuell wegen Landsfriedensbruchs.

4. Juli 1977: 21 Umweltschutzverbände aus Frankreich überreichen der Schweizer Botschaft in Paris ein Schreiben, in dem die «von der Polizei ausgeübte brutale Repression» verurteilt wird. Hunderttausende französischer Umweltschützer hätten «mit Erstaunen festgestellt, zu welchen Methoden die schweizerische Demokratie greifen kann». Die Unterzeichnenden fordern den Bundesrat und die Solothurner Regierung zum Verzicht auf das umstrittene Atomprogramm auf.

5. Juli 1977: Die Solothurner Regierung bedankt sich über die Medien bei Polizei und Bevölkerung und hofft, dass in den Dörfern Dulliken und Däniken «endlich wieder Ruhe einkehren möge».

11. Juli 1977: Der von der Polizei gesuchte Demonstrant A. F. stellt sich der Kantonspolizei Olten und bleibt 5 Tage in Untersuchungshaft. Das SAG wehrt sich «gegen die Kriminalisierung einzelner Personen der Bewegung» und startet eine Selbstbezichtigungskampagne, welche die zuständigen Behörden auffordert, «gegen alle Personen, die sich an die Beschlüsse der Vollversammlung halten, die gleichen rechtlichen Schritte vorzunehmen». «Wir haben alle besetzt - Wir sind alle A.F.» Die Spenden zugunsten des SAG belaufen sich nun auf 40000 Franken.

In den Räumen des SAG-Sekretariats in Dulliken findet auf richterliche Verfügung hin eine Hausdurchsuchung statt, in Abwesenheit des Hausbesitzers.

März 1978: Das Richteramt Olten-Gösgen klagt sechs Mitglieder des SAG wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte an.

28. September 1978: 400 AKW-KritikerInnen kommen zum Prozess gegen die Angeklagten. Fünf der Angeklagten müssen Bussen zwischen 500 und 800 Franken bezahlen. A.F., der fünf Tag in Untersuchungshaft gesessen hatte, erhält eine Entschädigung von 700 Franken.

18. Februar 1979: Volksinitiative «Zur Wahrung der Volksrechte und der Sicherheit beim Bau und Betrieb von Atomanlagen» scheitert mit 48,8 Prozent Ja-Stimmen.

30. Oktober 1979: Das AKW Gösgen nimmt seinen kommerziellen Betrieb auf.

15. Mai 1981: Das AKW Gösgen wird offiziell eingeweiht.

21. Juni 1986: 30 000 Menschen demonstrieren an einem Tschernobyl-Gedenkmarsch vor dem AKW Gösgen.

Sie waren in Gösgen dabei



Leo Scherer hat nach «Gösgen» sein Jurastudium abgeschlossen. Er arbeitet heute bei Greenpeace und ist dort für den Bereich Atomenergie und Grosskraftwerke zuständig. Er sagt, jene Jahre seien für ihn eine wichtige Zeit gewesen und er habe den grösseren Teil seines politischen Studiums nicht an der Uni, sondern in der Anti-AKW-Bewegung absolviert. Ob heute wieder so eine Bewegung zustande kommen könnte, bezweifelt er eher. «Eine neue Anti-AKW-Bewegung kann man nicht einfach ausrufen. Bewegungen dieser Art sind unberechenbar. Damals waren sicher die intensive Jugendbewegtheit und eine verbreitete Skepsis gegenüber Grosstechnik wesentliche Faktoren, dass eine Bewegung 'ausbrach'.» Leo Scherer wohnt in Wettingen.

Vreni Wullschleger und Werner Stocker: Die beiden haben sich beim Wacheschieben in Kaiseraugst kennengelernt und verliebt. Vreni arbeitet in der Pflege und Werner ist Homöopath. Er war 1977 32 Jahre alt und hat im Sog von Kaiseraugst seine eigene Drogerie aufgegeben, um sich in der Bewegung engagieren zu können. Ende der siebziger Jahre sind die beiden zusammen mit dem Besitzer des Bauernhofs in Dulliken, der dem Schweizerischen Aktionskomitee gegen das AKW Gösgen (SAG) als Zentrale diente, nach Italien ausgewandert und waren dort Biobauern. Seit 1986 sind sie wieder in der Schweiz. Werner sagt, die Zeit in Kaiseraugst habe ihn radikalisiert, vorher sei er ein Bürgerlicher und AKW-Befürworter gewesen. Werner findet es ungeheuerlich, dass heute wieder über AKW diskutiert wird. Heute wohnt das Paar in Basel.

Filippo Leutenegger war später aus «Spass an der Förderung von Konkurrenz» bei der Gründung der WOZ dabei, lebte in einer WG und arbeitete bei der Schweizerischen Kreditanstalt, aus «Freude am parallelen Leben in verschiedenen Welten». Später hat er beim Schweizer Fernsehen Karriere gemacht, wo er zuletzt Chefredaktor war. Nach seiner Entlassung wechselte er wieder ins Zeitungswesen, diesmal allerdings nicht als Journalist, sondern als Verleger (CEO der Jean Frey AG mit «Weltwoche», «Beobachter» und anderen). Filippo Leutenegger lebt in Zürich, ist FDP-Nationalrat und nach wie vor gegen AKW, «weil die Abfallproblematik noch immer nicht gelöst ist».

Stefan Füglister ist heute beim VCS. Zuvor war er lange Zeit Atomcampaigner bei Greenpeace. Er ist nach Gösgen noch rund zehn Jahre in der Bewegung geblieben. Aus heutiger Sicht denkt er, dass die Bewegung zum Beispiel mit dem Stopp des Atomprogramms viel erreicht hat - und wünscht sich manchmal doch, dass sie mehr erreicht hätte. Die Erfahrungen von damals möchte er nicht missen. Er habe erlebt, wie Staat, Gesellschaft und Machtträger funktionieren. Besonders Kaiseraugst sei ein starkes und vor allem ein positives Schlüsselerlebnis gewesen.

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